Teil I | Autobiografische Rückblicke | Johannes S. Wrobel Aktualisierte Fassung

Herzlich Willkommen! Zwei Mottos, zwei Leitgedanken für diese autobiografische und meine text- und fotokünstlerische Homepage, die gegenwärtig gewartet und teilweise überarbeitet wird, was auch auf die Webseiten dieser Homepage zutrifft.

"Der Text ist durchgesehen, teilweise überarbeitet und wird gegenwärtig mit Fotos und Verlinkungen ergänzt (bei Bedarf korrigiert und erweitert), was noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird."

Die Homepage wirkte bisher etwas bunt, was nicht ohne Grund war, wie unten gezeigt wird ... 😎




Johannes S. Wrobel | Johannes Stephan Wrobel | Stephan Wrobel *    

Mein autobiografisches Nachschlagewerk
gegen das (mein) Vergessen


Rückblicke, Teil I – Jugend oder Wie man Idealist wird


Textstand 2015/2016 | zuletzt bearbeitet 2022 | 2023 | 22.09.2024  


Inhaltsverzeichnis mit Navigation:

(s.a. bei der Einführung zu Teil I; Inhaltsverzeichnis, Teil II)

1953 – 1959

Einleitung
  Anmerkung zu meinen beiden Rufnamen "Johannes" und Stephan".
Zerbrochene Heimat ohne Erinnerungen
Erste Heimat

1959 – 1963

Einleitung
Der kleine Mann und das Meer
Schüler und Bücherwurm
Unter Künstlern
Mission Impossible – Projekt "Lila Winkel"
Wie ich Bibel-Forschender werde
''Ich bin ein Berliner!"

1964 – 1967

Einleitung
Drei Länder, vier Gastfamilien – meine Sommereltern in Schweden, Österreich und Spanien

1968 – 1969

Einleitung
Sehnsucht und Geheimnis

1970 – 1972

Einleitung
Kein alltägliches Lebensentwurf eines "Idealisten"
Farben-Baer und Psychologie
Lebenszäsur
Reisefieber

1972 – 1977

Einleitung
"Bethel"-Mitarbeiter
Wissensdurst und Reiselust
… und was man(n) sonst noch hat

1977 – 1978

Einleitung
Schreibtischarbeiten

1979 – 1983

Einleitung
In der Redaktionsabteilung
Ein Bücherwurm lernt Schreiben
Ich 'beobachte die Welt'
Spannende Recherchen und Interviews

1984

Einleitung
Ein "Paradies"
Gute Erinnerungen
Exkurs: Sie traf Albert Einstein (Interview)

1985 – 1989

Einleitung
Lebensberichte als Schlüsselerlebnis
Quellen als Kulturerbe
Zeitgeschichte im Fokus

1989 – 1994

Einleitung
Unter Beobachtung
Ein Standardwerk und viele Privatforscher

1995

Einleitung
Zeitzeugen sollen die Öffentlichkeit informieren

1996

Einleitung
Eine Filmdokumentation nimmt Gestalt an
Die Videodoku und die Öffentlichkeit
Die Welturaufführung, eine "Weltpremiere"
Wie geht es weiter?

1997 – 2007

Einleitung
Massenhaft "Standhaft"-Events
Veranstaltungen im Ausland
Wachsende Aufmerksamkeit
Bleibendes Gedenken
Weitere Höhepunkte

2008

Einleitung
Der Widerstand nimmt zu
Eine zweite Lebenszäsur

2009 – 2018

Einleitung
Neuer Lebensabschnitt
Unter Schwaben und Bayern
Viel unterwegs im neuen "Brotberuf"

Gegenwart

Noch immer "Berliner!"



VORWORT | PREFACE – Teil I


Auf die Lebensabschnitte in West-Berlin (1960 – 1972) Wiesbaden (1972 – 1984) und Selters/Taunus mit einem Zwischenaufenthalt in Brooklyn, New York (1985 – 2008) blicke ich mit etwas "Stolz" zurück und gehe darauf in zwei autobiografischen Rückblicken ein – hier Teil I, der die Jugendzeit und damit die Beweggründe für eine Lebenszäsur (1970) und den Beginn eines altruistischen Lebensweges (1972 bis 2008) als "Idealist" beschreibt.

Meine Motivation für diese autobiografischen RÜCKBLiCKE ist vielschichtig. Worauf ich noch eingehe. Ebenso intensiver auf die zeithistorische Fachthematik, um die es mir beim Verfassen ursprünglich hauptsächlich ging und für die ich dann mit Teil II, verpackt in Lebensrückblicken, ein eigenes Dokument schuf. Wobei die Verlinkungen zu meinen Manuskripten und Texten helfen sollen, sich dem zeitgeschicht­lichen Nischenthema zu nähern und Forschenden die Materialsuche zu erleichtern. Externe Links (Wikipedia) sollten ursprünglich in beiden autobiografischen Teilen bei Bedarf ebenfalls zum Nachschlagen und persönlichem Informieren dienen.

Wie 'das Verständnis der eigenen Geschichte zur Identitätsbildung jeder Nation beiträgt' ( Deutscher Bundestag, 2008), so bilden Menschen Identität durch ihre eigene Lebensgeschichte. Und wenn sie darüber reden oder schreiben können, dann tragen sie zum eigenen und zum Verständnis anderer bei – warum bin ich eigentlich so wie ich heute als Persönlichkeit erscheine? ☺

Die Autobiografie dient mir selbst zum Nachschlagen von Daten und Ereignissen – ich bin scheinbar mit keinem guten spontanen Datengedächtnis gesegnet worden (was dem Erfinder des Internets als Motivation für seine Erfindung nachgesagt wird – schneller Nachschlagen, und meine Arbeitsweise als wahrscheinlich hochsensibler Mensch war seit jeher, nicht Antworten zu WISSEN, sondern zu FINDEN). Ähnlich ergeht es mir mit meiner Fotokünstlerseite als "Stephan Castellio" auf Facebook – so finde ich dort meine jahrelang geknipsten Fotos "Augen-Blicke" mit zeitnahen Beschreibungen relativ schnell wieder, wenn ich sie brauche. ("Es wird Zeit, eine Auswahl der Bilder online zugänglich zu machen", so schrieb ich hier 2016 – inzwischen längst als eigene Webseite realisiert!)

Also dann, auf geht's, wennst magst ...
(Richtig ausdrücken konnte ich mich schon immer schriftlich besser als mündlich, verbale Vermittlung blieb Stückwerk, wenn mein Gegenüber keine Rückfragen stellte. Doch "was man schreibt, das bleibt ...")



RÜCKBLiCKE, 1953 – 1959

Die Berge und das Meer ziehen mich an. Vor allem war ich schon immer mit Flüssen und Gewässern verbunden (affin), also mit dem Element Wasser. Und ich mag gern an Stränden, Ufern, Waldbächen und in Häfen schlendern. Oder auf Kanälen "gondeln" mit dem Wasserbus Vaparetto in Venedig. Oder über ein Meer. Und sei es heute das "Bayerische Meer", der Chiemsee. Meeresrauschen – 👍 gefällt mir, doch ebenso die Stille eines Sees oder die Ruhe der Lagune von Venedig, wie ich sie auf der Insel Lido kennenlernte.

Kein Wunder, denn frühe Babyfotos zeigen mich im Kinderwagen am Wasser – am Hafenkai eines Flusses. (Heute fahre ich meinen Wagen selbst, lange Zeit einen Fiat. 😎 )

Foto Mein Geburtshaus (Foto mit Urgroß­mutter) liegt in der Nähe eines kleinen Binnen­hafens in Oppeln (Opole) an der Oder in Ober­schlesien (seit 1945 Polen) bei Breslau (Wrocław).*

* Gemeint ist der Hafenkai von Sakrau (Zakrzów), ein Ortsteil von Opole, wo mein Geburtshaus steht, ein von meinen Eltern selbst erbautes oder umgebautes Häuschen mit Stall, Garten und kleinen Obstbäumen. Google Maps zeigt hier die geografische Lage des Hauses. (Bei Interesse, klick mich! Manches habe ich mir hier zum schnellen Nachschlagen eingerichtet, falls ich Lust auf Online-Schnuppern und Surfen verspüre 😏  ... "Was man schreibt, das bleibt.")

Foto Wir sind eine deutsche Familie, was uns rund fünf Jahre später gleich nach der Um­siedlung von Ober­schlesien in der neuen Hei­mat West-Berlin dort vom Senator für Inneres beurkundet werden wird (klare Ansage über unsere Volkszugehörigkeit, siehe Foto).

Geboren im Dezember 1953, dank meiner Eltern. Und dabei mit den biblischen Vornamen "Johannes" (Johann, Jan) und "Stephan" (Stefan) versehen, also mit zwei Vornamen, und beide Vornamen sind in Gebrauch – vor allem beim Publizieren, aber auch als Rufnamen. "Stephan Wrobel" vor allem seit der Lebenszäsur Ende 2008, und davor und inzwischen wieder im Zeitgeschichtsbereich "Johannes Wrobel" bzw. "Johannes S. Wrobel" (Johannes Stephan Wrobel, vgl. "Erinnerungskultur/Gedenkarbeit – Spurensuche"). Nicht wundern, wenn ich das mit den beiden Vor- und Rufnamen gleich am Anfang erwähne – das hat seinen Grund und ist etwas kompliziert. Wen es interessiert, hier eine Anmerkung dazu.*

* Der Namenstag meines Vornamens "Johannes" (poln. "Jan") ist gemäß dem katholischen Kalender am 27. Dezember, der meines Vornamens "Stephan" (poln. "Stefan") am 26. Dezember. Meine Eltern planten für mich beide Vornamen aus dem katholischen Namenskalender in deutscher Sprache ein, ungeachtet ob ich am 26. Dezember (Stephan) oder am 27. Dezember (Johannes) das Licht der Welt erblicken würde – der zeitliche Unterschied war ja nur eine Frage von Stunden. Die deutsche Schreibweise meiner Vornamen, wie von den Eltern gewünscht, ließen die Polen beim Ausstellen der Geburtsurkunde in Oppeln (Opole) nicht zu. Erst nach der Um­siedlung der Familie nach Deutschland wurden die Papiere von Anfang an auf die deutsche Schreibweise meiner beiden Vornamen ausgestellt, zunächst mit der Übersetzung "Johann", was später vom Amt auf "Johannes" geändert wurde. Als "Johann Wrobel" fühlte ich mich schon als Kind nicht unbedingt wohl, und die Eltern riefen mich zuerst "Hans", auch "Hansel", was sogar in mein erstes Schulzeugnis Einzug hielt, was ich aber überhaupt nicht mochte.

So kam es, daß ich mich als Schüler unter Freunden "Johnny" nannte, was mir gefiel und auch gut von meinem Umfeld angenommen wurde, auch von den Eltern, und sogar noch viele Jahre nachwirkte, so dass ich für einige der "Johnny Wrobel" blieb, nicht nur für Klassenkameraden. Die Schreibweise meines mit der Zeit eingebürgerten Namens "Johannes Stephan Wrobel" (statt Johann Stephan) beurkundete das Ordnungsamt Wiesbaden am 29. April 1983. Mit den Vornamen "Johannes" und "Stephan" fühle ich mich ganz wohl. Seit November 2018 kann man in Deutschland laut Personenstandsgesetz die Reihenfolge der Vornamen amtlich ändern lassen, wenn man mehrere davon hat und zum Beispiel den Zweitnamen als Rufnamen verwendet, worauf ich bislang verzichtet habe.

Ich habe schon Menschen getroffen, bei denen ebenfalls zwei Vornamen in Gebrauch sind, wie bei mir. Und dieser Tage (2021) sah ich in einer TV-Nachtshow ein Interview mit der bekannten Schauspielerin Uschi Glas, die von Geburt an "Helga Uschi Glas" heißt und erzählte, wie ihre Mutter eines Tages über ihre Tochter sagte: "Das ist keine Helga, das ist eine Uschi!". Von da an wurde der Vorname "Uschi" benutzt. So geht das ...

Zerbrochene Heimat ohne Erinnerungen

Keine Erinnerungen mehr an meine Lebenszeit in Oberschlesien, an die "zerbrochene Heimat", die ich nie richtig kennengelernt hatte. Verschüttet. Meine Bilder im Kopf an den Ort hängen heute an Fotos, Erzählungen der Eltern und an zwei Besuchen in Oppeln Jahre später, der letzte auf dem Rückweg von Auschwitz.*

Foto * Meine Erinnerungen an Oppeln beruhen haupt­sächlich auf einem Besuch dort im Oktober 1963 zusammen mit den Eltern bei der Urgroß­mutter (die "Oma", wie die Urgroß­mutter in der Familie genannt wurde – sie hatte meine Muter in Ober­schlesien in meinem Geburts­haus groß­gezogen [Foto], während ihre eigentliche Mutter, unsere "Omi", wie sie in der Familie genannt wurde, damals in Groß­berlin in einem vornehmen Haushalt arbeitete und lebte).

Mein zweiter und letzter Besuch in Opole war 40 Jahre später, und er schließt sich 2004 nach einem Referat zu einer Aus­stellungs­eröffnung im ehe­maligen Konzen­trations- und Vernich­tungslager und heutigem staat­lichen Museum und der Gedenk­stätte Auschwitz-Birkenau an. Auf dem Rück­weg mit dem Pkw mit einem Bekannten dann eine Stipp­visite in Opole. Gleich am Orts­eingang kaufte ich einen Stadt­plan, um mich zurechtzufinden.

Ich besuchte ein Archiv in der Stadt, und anschließend suchte und fand ich mein Geburtshaus in unserer Straße in Zakrzów!

Meine Großtante "Ditha" (Traudel) aus Oppeln (geb. 2.08.1932), auf die ich auch unten eingehe, erzählte mir vor einigen Jahren eine unglaubliche Geschichten über mich – über meine früh­kindliche Anhänglichkeit zu ihr als junge Frau. Wir wohnten damals in derselben Straße (Prudnicka) in Oppeln-Zakrzów. Ihre Eltern hatten eine Bieber­zucht, ihr Bruder Günther war Boxer; über ihren Vater, meinen Onkel Richard, weiß ich nicht viel, ihre Mutter, unsere "Tante Lucie", war eine resolute Frau, doch uns Kindern gegen­über (meinem Bruder und mir) warm­herzig und groß­zügig, wir mochten sie ebenfalls sehr, eigentlich alle Glieder dieser Familie. Heute telefonieren meine Großtante und ich ab und zu miteinander, was mich freut; und sie erzählt immer wieder gern von meiner damaligen großen Anhänglichkeit:

Wie ich jeden Tag auf sie vor ihrem Haus Prudnicka 20 in Sakrau (Zakrzów) gewartet hatte bis ich sie schließlich aus der Arbeit kommen sah. Oder auch schon morgens früh nach dem Aufstehen auf sie wartete, schon angezogen von der Mutter, um sofort zu ihr unter einem dummen Vorwand gelaufen kam ("Die geben mir nicht zu essen!"). Um mit ihr zu früh­stücken, und dann ein kleines Stück Weges gemeinsam mit ihr zur Arbeit zu gehen. Also als Bub unzer­trennlich von ihr schien – ich habe leider überhaupt keine Erinnerungen daran ... schade. Vielleicht ein Schlüsselerlebnis? Ich weiß es nicht.

Menschen suchen, solange sie leben. Andere suchen nicht, sie finden. Erst kürzlich entdeckte ich diesen Text des deutschen Schriftstellers Wilhelm Raabe (1831–1910):

"Vorgestern stand ich auf einem Berg – einer kahlen, nur mit kurzem Gras und vereinzeltem Gestrüpp bewachsenen Höhe, erhaben über allen Wipfeln und Gipfeln bis in die blaueste Ferne. Ich stand und blickte hinab auf das nahe Grün und das ferne Blau und achtete auf das Aufblitzen der Gewässer in der Ebene, die südwärts hinter dem Gebirge sich dehnt. Da stand plötzlich ein alter grauer Mann, der seine Holzaxt auf der Schulter trug, neben mir und redete mich so unversehens an und grüßte mich, daß ich ordentlich erschrak. Er kam mir aber grade recht, um mir die Gegend zu deuten. Manche Berggipfel und Höhenzüge, manche Kirchtürme nannte er mir mit Namen, und endlich sagte er: "Ja, Herr, ist das nicht so schön, daß man seine Braut daraus holen möchte?"

Ich blickte den Alten, betroffen über das sinnige Wort, an. Er wußte gewiß selbst nicht, wie recht er das Gefühl getroffen hatte, welches an einer solchen Stelle die Menschenbrust bewegen kann. Eine schöne, gute Braut ist wohl das höchste Glück, welches einem Menschen auf Erden zuteil werden mag, und nun stehst du, und ein Erdenwinkel liegt vor deinen Augen hingebreitet in wonniger Schönheit, in Duft und Glanz, süß und milde; – und du bist einsam und allein, und ein unbekanntes Glück, das du ahnst, wohnt drunten im Tal. –

Man möchte seine Braut daraus holen!"

("Eine Brautschau." Wilhelm Raabe: Nach dem großen Kriege. Eine Geschichte in zwölf Briefen (17. Aug. – 27. Dez. 1860), I, 3; 385 f.)

Die Ferne bringt Ahnen, Sehnsucht – Geheimnisse, Mysterien, auch mir. Die Ferne reizt zu Fernweh nach fremden Ländern und Orten, wie die Distanz zu Träumen über das "fremde" andere Geschlecht – die dann an der Realität und Nähe zerschellen können, wie ich unten bemerke. "Heirate auf jeden Fall!", soll der griechische Philosoph Sokrates (469 – 399 v. Chr.) gesagt haben. "Wenn du eine gute Frau bekommst, wirst du glücklich. Wenn du eine schlechte Frau bekommst, wirst du Philosoph." (Das Zitat habe ich bislang nicht überprüft.)

Der Mensch sucht Nähe, solange er lebt, möchte teilen, was ihn bewegt, auch ich. Jeder Mensch darf – ja muss – für sich ein eigenes, freies Leben finden, auch ich. Was werde ich suchen, was finden? Life is beautiful, und Freiheit ist bunt.

Erste, neue Heimat

Als deutsche Aussiedler reiste die Familie Wrobel, meine Eltern, mein älterer Bruder (geb. 24.08.1950) und ich, per Eisenbahn von Oppeln (Opole) nach Westdeutschland. Und dort mit der Zeit über die Aus­siedlerheime Friedland und Uelzen (November 1958) sowie über Kirchzarten und St. Blasien (Krankenhaus­aufenthalte meines Vaters, siehe unten) schließlich nach Berlin, wo Verwandte im Ostteil (kommu­nistisch), andere im Westteil (demo­kratisch) der geteilten Stadt lebten.*

* Mein autobio­grafischer Bericht geht in der Regel nicht näher auf Angehörige ein, was ich zu respektieren bitte.

In Ost-Berlin (DDR), hinter dem Eisernen Vorhang, wohnte meine "Omi", Großmutter Magdalena mütterlicherseits. In West-Berlin lebten meine Tante Lucie und mein Onkel Richard und ihre Tochter Ehrentraud (Traudel), das war meine geliebte Großtante "Ditha" (Editha), worüber ich oben berichte, und die alle schon vor uns nach Deutschland umgesiedelt waren. Die Familie hatte angeboten, uns vorerst bei sich in ihrer ziemlich großen Etagenwohnung im Kronprinzendamm im freien Westteil der geteilten Stadt aufzunehmen. Das war im obersten Stockwerk eines ehrwürdigen altberliner Gebäudes von 1894, Kronprinzendamm, Hausnummer 1. Ein Teil des vier Etagen großen Gebäudes ist seit 1984 das Hotel "Kronprinz", der Rest mit dem großen Treppenhaus sind noch immer Wohnungen; das Haus selbst ist ein Berliner Kulturdenkmal geworden.

Es war schon Nacht als wir am 19. Juni 1959 im Haus Kronprinzendamm 1 eintrafen. Und wir werden nach einer stürmischen Begrüßung bei "Tante Ditha" einquartiert, im größten Zimmer mit Balkon der Etagenwohnung (die noch ein stilles älteres Ehepaar im hinteren Bereich bewohnte). Vom Balkon aus konnte man rechts die nahe beleuchtete S-Bahnbrücke Halensee und links in der Ferne den Berliner Funkturm erkennen, worauf ich schon gespannt war!

Gleich nach der Ankunft am nächsten Morgen konnte ich es kaum erwarten, und laufe erwartungsvoll die vier Etagen über das große runde Treppenhaus die vielen Stufen hinunter vor die Tür auf den Kronprinzendamm, und dann zum nahen Kurfürstendamm, um dort von der S-Bahn-Brücke Halensee aus den Berliner Funkturm besser sehen und bestaunen zu können – frei, voller Zukunftserwartung. Vielleicht eine vorweg genommene Neugier, Sehnsucht nach Weite, Ferne, Reiseabenteuern und Entdeckungen? Ein kleiner schüchterner Bub "beobachtet die Welt" auf der Halenseebrücke mit schönster Aussicht nach Norden und Süden. Und mit diesen Bildern im Kinderkopf haben eigentlich schon immer meine bewussten Lebenserinnerungen begonnen – nicht mit Oppeln in Ober­schlesien oder in Aussiedlerheimen in West­deutschland, sondern im grandiosen Berlin!

Das freie West-Berlin, die damalige Zweimillionenstadt unter dem regierenden Bürgermeister Willy Brandt (1957–1966), wird mir, dem Heimatlosen, zur ersten wirklichen Heimat(stadt). Und als West-Berliner wohne ich jetzt sogar an zwei Flüssen – zwischen Havel und Spree!


RÜCKBLiCKE, 1959 – 1963

Wir blieben vier Monate bei Tante und Onkel im Kronprinzendamm 1, bis wir endlich eine eigene Wohnung gefunden und bezogen hatten.

Das war eine Zweizimmerwohnung in einem Hinterhaus in der Joachim-Friedrich-Staße 26 in Charlottenburg, quasi um die Ecke vom Kurfürstendamm, der West-Berliner Flanier- und Ausgehmeile (City West) und schon damals eine Haupteinkaufsstraße. Später zogen wir in die Kreuznacher Straße (Wilmersdorf) am Breitenbachplatz, Ecke Südwestkorso, unten mehr darüber, meine eigentliche Wohngegend in West-Berlin.

Der kleine Mann und das Meer

Rund sieben Monate lebe ich zwischen­zeitlich ohne Eltern zur Erholung auf der Nord­seeinsel Föhr in einem Kinder­kurheim am Süd­strand der Stadt Wyk (Hin­fahrt am 12. Mai – Rück­fahrt am 14. Dezember 1960).*

* Ursprünglich waren es "ausge­bombte" unterernährte Kinder aus Großfamilien, die ab 1947 mit dafür bereit­gestellten Bussen, zum Beispiel als "Kinder­transport Evan­gelisches Hilfs­werk", zur Erholung ins da­malige "Marienhof Kinder­kurheim" in Föhr gebracht wurden.

Meine Eltern sind derweil in West-Berlin, die Mutter hochschwanger, Vater damals mehr in Krankenhäusern als zu Hause aufgrund einer Kriegsverwundung noch als Wehrmachtssoldat im Zweiten Weltkrieg, ein "Lungensteckschuss", wie er sagte, der Splitter einer "russischen" Granate, der ständiges Fieber bei ihm verursachte – ein Krieg trifft immer Menschen. (Ich selbst bin anerkannter Kriegsdienstverweigerer.) Seine Kriegsverletzung war übrigens unter anderem der Grund für unsere Übersiedelung nach Deutschland gewesen. Vater wollte sich den Granatsplitter auf jeden Fall in Deutschland und nicht in Polen durch eine OP entfernen lassen. (So kam es auch, daß er auf unserem Reiseweg in Westdeutschland mehrere Zwischenaufenthalte in Kliniken hatte, zum Beispiel in St. Blasien im Schwarzwald, während wir, der Rest der Familie, im Lager Friedland warteten.)

Foto Nach der Geburt des zweiten Bruders am 29. Mai bittet meine zarte Mutter (Foto) das Amt in West-Berlin, ich glaube mehrmals, um Verlängerung meines Erho­lungs­aufenthaltes auf Föhr, um sich besser meinem älteren Bruder und vor allem der Säuglings­pflege widmen zu können. Also blieb ich länger als erwartet auf der nord­friesischen Insel Föhr und das so lange allein, musste ohne meine Familie auskommen.

Das Kinderkurheim Marienhof in Wyk auf Föhr ist ein großes Haus direkt am Nord­seestrand mit Blick auf das "große" Meer (Wattennmeer) und den "unendlichen" Himmel (über Schleswig-Holstein) – ich kann durch die Fenster in der Ferne die Schiffe sehen, die regel­mäßig vorbeifahren. Heimweh und Fernweh vermischen sich bald in meiner Wahr­nehmung. Alle Kinder essen gemeinsam in einem Speise­saal, nächtigen in Schlafsälen, werden beschäftigt und unternehmen ausgedehnte Insel­spaziergänge mit Begleitung. Natürlich verbringen wir Kinder bei schönem Wetter viel Zeit vor der Tür, am Sand­strand mit Schaufel und Eimer, das sanfte Rauschen der Meereswellen im Ohr (Foto vorhanden). Daher wohl noch heute mein Hang zum Meer und zur Farbe Blau. (Auch wenn das Meer dort nicht immer blau, sondern oft grau ist, was vom Wetter abhängt.)

Übrigens, es gibt eine Farbe, die mich damals weit mehr als Blau faszinierte. Und das war leuchtendes Gelb – für mich die Farbe der Sonne, Gelb als Farbe des Strandes und eines Lieblingsbuntstiftes, den ich als Kind und Erstkläßler besaß! Das freundlich helle Löwenzahngelb und die Farbe der Zitronenfalter empfinde ich als wunderschön! (Vielleicht war ich später deswegen so gern im freien Schweden, weil die Landesfarben Blau und Gelb sind?* Und heute spielen Zitronen in meinem Leben eine gewisse Rolle als Vitaminspender ... lach.) ☺

* Erst dieser Tage stellte ich fest, daß die Wappenfarben meiner Geburtsstadt Oppeln in Oberschlesien Gold (das wie Gelb wirkt) und Blau sind, ebenso wie die Farben von Oberschlesien!

Gelb und Blau machen mich bis heute fröhlich, gehören zur (angestrebten) Leichtigkeit des Seins.

(Doch da waren noch die Farben des Grauens, des Hungers, Durstes und Frierens, der brutalen Schläge und des Mordens, erschossen von der SS wegen einer Nichtigkeit, erschlagen, zertreten, erhängt, vergast, verhungert, die Farben des Todes, die Menschen vor allem in deutschen Konzentrationslagern und Vernichtungslagern, aber auch in Zuchthäusern, Gefängnissen, Kinderheimen und Kliniken während der Diktatur bis zuletzt sahen, weil sie ihren religiösen Überzeugungen treu blieben, mit denen ich sehr viel später als Geschichts­forschender intensiv zu tun haben sollte, die aber das Blau und das Gelb, die Liebe, die Hoffnung und die Sehnsucht, nicht auslöschen dürfen, solange wir am Leben sind!)

Jedenfalls liebe ich bis heute das Meer – die Nordsee und die friesischen Inseln, mag das wärmere Mittelmeer und seine Gestaden und Strände, die ich damals bald kennenlernen sollte: Als Teenager in Spanien (Barcelona), als junger Mann in Italien (Venedig), als Erwachsener in Griechenland (Samos), Italien (Laigueglia) und Israel (Tel Aviv). Und als alter Mann in ... (Moment, noch ist es nicht ganz soweit ☺ [ja, noch nicht ganz ..., obgleich seit der Niederschrift dieser Worte schon wieder etliche Jahre vergangen sind, und die geplante Rubrik "Anderswo unterwegs" einmal beispielhaft zeigen soll, wohin es mich seitdem verschlagen hat].)

Richtig, hinzu kommen ja noch die Reisen, die mich an die Ostsee (Rügen, Bad Doberan, Danzig, St. Petersburg), den Kattegat (Hälsingborg / Hälsingör) oder zu den großen Ozeanen brachten – dem Pazifischen Ozean (San Franzisko) und Atlantischen Ozean bei Florida (Fort Lauderdale) und New York, an der Nordwestküste Afrikas bei Agadir (Marokko) oder an der Westküste Irlands und Südküste Englands, oder in die glitzernde Karibik (Puerto Rico und Virgin Islands, USA) und an ein Nebenmeer des Indischen Ozeans – das Rote Meer (Elath). (Heute reise ich nicht mehr so weit. In den letzten Jahren kamen nur noch Kurztrips mit faszinierenden Meerblicken dazu, in Cala Ratjada/Mallorca, Bibione/Italien und Rovinj/Kroatien.)

Soweit so gut das Meer, das heißt ein weiterer MeerBLiCK soll noch erwähnt werden, bevor die Zeitreise wieder zurück an den Anfang geht, wo alles begann:

Vor allem begeisterte mich die ostfriesische Insel Wangerooge, die ich 1997 fast wie Christoph Columbus von der Seeseite aus (für mich) "entdecke". Und das kam so: Zusammen mit Onkel Fritz und seinem Kahn schipperte ich auf einer abenteuerlichen privaten Bootsfahrt von Hooksiel (bei Wilhelmshaven) entlang der Küste des Jadebusens in Richtung offenes Meer. Bei Ebbe fischten wir Granat, kochten und verputzen die Krabben gleich an Bord. Gegen Abend legten wir mit dem Boot an einer Kaimauer von Wangerooge (unerlaubterweise) an. Während "Kapitän Fritz" sicherheitshalber in der Kajüte blieb (wo wir dann übernachteten) kletterte ich auf die Kaimauer und eroberte mit den Augen auf Landgang vorerst ein kleines Stück der Dünenlandschaft unter dem Himmel der wunderschönen Insel Wangerooge.

Die Schönheit der Nordseeinsel beeindruckte mich so sehr, dass ich beschloss, bald auf dem Landweg und per Überfahrt auf der Fähre nach Wangerooge zurückzukehren. Was dann auch mehrmals gelang (1997 und 1998, 2005 und 2006). Inseln wie Wangerooge, ebenso wie Helgoland (1978), haben eine Bedeutung für meine Geschichte (worauf ich vielleicht einmal später eingehe). Erlebnis Naturbusen, quasi vom "Jadebusen" an der Nordsee (ich war noch oft in Wilhelmshaven) zum "Hexenbusen" in den Alpen (die Rotofentürme im Lattengebirge zwischen Untersberg und Staufen bilden die markante Silhouette einer liegenden, "schlafenden" Frau mit jugendlichem Brüsten), den ich heute täglich vor Augen habe, wenn ich aus der Tiefgarage oder aus dem Haus in Freilassing komme und in Richtung Süden zu den prächtigen Alpengebirgsmassiven blicke. Darüber auch am Schluss etwas.

Schüler und Bücherwurm

Im Mai 1961 bezieht die Familie Wrobel, die Eltern mit inzwischen drei Söhnen, eine größere, helle, freundliche West-Berliner Wohnung, dritter und letzter Stock, in der Kreuznacher Straße 70, Ecke Südwestkorso, die uns zugewiesen worden war.

Die recht dunkle Hinterhofwohnung in der Joachim-Friedrich-Straße am Kurfürstendamm ist nun Vergangenheit. Nur ein späterer Reim in Form eines Kindergedichts betitelt "Im Keller" (wir wohnten im zweiten Stock) erinnert mich heute noch daran:

Im Keller
(Berlin-Wilmersdorf, September 1969)

Der Morgen war endlich wieder da
Und die Sonne schien hell.

Ich lief hinunter die Treppen schnell,
Dort, wo die Kohle war.

Oh weh, hier war es dunkel und schwarz.
Da durchfuhr mich der Schreck:
Hier versteckt sich die Nacht – da hab' ich
Schnell die Tür zugemacht.

Am Abend ist die Nacht dann schließlich
Doch wieder gekommen –
Hat bestimmt die Tür aufbekommen!

Der neue helle Lebensmittelpunkt am Breitenbachplatz macht uns zufrieden und läßt uns erwartungsvoll in die Zukunft blicken! (Mein Vater war viele Jahre später, nach dem Tod meiner Mutter, ein zufriedener Mieter einer anderen schönen hellen Wohnung in Wilmersdorf – in der in Deutschland einzigartigen Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße! Er verstarb in Berlin 2013 im Alter von über 90 Jahren.)

Wir wohnten also inzwischen in der Kreuznacher Straße 70 im letzten Stock, mit einem fantastischen Blick auf den Breitenbachplatz (U-Bahnhof, Foto) und am Himmel auf die ankommenden Flugzeuge in Richtung Flughafen Tempelhof. (Heute höre ich über mir einige der Flugzeuge beim Anflug auf den Airport Salzburg, aber Fluggeräusche machen mir wie damals nichts aus. Es ist ein schwarze Ruß, der sich bei geöffneten Fenstern in der Wohnung niederlässt und mich stört, der Feinstaub stammt sicherlich auch vom Straßenverkehr. Während der Corona-Pandemie, als der Airport Salzburg lahmgelegt war, verschwand der schwarze Staub aus der Wohnung.)

Foto Den Breitenbachplatz zieren große schlanke Pap­peln, die sich im Wind neigen, gut vom Kinder­zimmer aus anzuschauen (Foto). Eines Tages verschwanden die schönen Bäume, was mich bewegte, den Prosa­text "Der Platz" zu schreiben, und später dazu eine kleine, tief­sinnige Betrachtung über Leben und Tod:

DER PLATZ
(Berlin 33, den 17. Februar 1970)


DA IST EIN SCHÖNER PLATZ IN BERLIN.
– ER IST SEHR STOLZ.


DENN AUF IHM STEHEN WUNDERSCHÖNE PAPPELN,
UND IN DER MITTE LIEGT EIN GRÜNER RASEN,
DER IM SOMMER BLÜHT.
WENN VIELE LEUTE KOMMEN UND IHN BEWUNDERN,
DANN STRAHLT ER UND FÜHLT SICH GANZ GEHOBEN.

ABER DIE GROSSEN PAPPELN MACHEN SICH WIRKLICH
GUT AUF DEM RUNDEN PLATZ.
– ER IST SEHR EINGEBILDET.


WENN ES HOCH OBEN IN DEN KRONEN RAUSCHT, DANN
BLEIBEN DIE LEUTE STEHEN.
DIE PARKBÄNKE SIND IMMER GUT BESETZT, DOCH
WENN KINDER AUF DEM GEPFLEGTEN RASEN GEHEN,
DAS SIEHT ER GARNICHT GERN.

DAS MUSS MAN ANERKENNEN,
ER IST ERHABEN ÜBER ALLEN PLÄTZEN DER UMGEBUNG.
– JA, DIE SCHÖNEN PAPPELN.


WEISST DU, DASS SIE GESTERN VERMESSEN KAMEN?

DIE AUTOBAHN SOLL ÜBER DEN PLATZ.
– UND DER PLATZ?

ER WAR SEHR STOLZ.
VIELE LEUTE KAMEN
UND DIE PAPPELN WAREN HOCH UND MAJESTÄTISCH.


Auf meiner Seite "Poesie & Literarisches" habe ich dazu einmal folgendes notiert:
"Der Blick aus unserem Kinderzimmer in Berlin-Wilmersdorf ging hinaus auf den Breiten­bachplatz (Foto), damals mit prächtigen Pappeln umsäumt – bis sie für die Stadt­autobahn geopfert wurden [an anderer Stelle des Platzes blieben sie bis heute erhalten]. Das empfand ich als Verlust, wobei mir die Vergäng­lichkeit alles Seins (auch des Gewohnten) bewusst wurde, und was mir etwas vor Augen führte: Die Not­wendigkeit von Beschei­denheit (was bedeutet, sich seiner Grenzen bewusst zu sein) und Demut (ohne Stolz, Sanftmut, sich Herab­beugen [d.h. bei Menschen das Niedrig­gesinntsein; vgl. die Demut Gottes laut Psalm 18,35, der sich gewisser­maßen zu Menschen herabneigt], was eine Stärke ist). Mir kam außerdem eine bekannte Pop-Melodie in den Sinn, die ich aus dem Radio kannte: "Mein Freund der Baum | Ist tot | Er fiel im frühen Morgenrot" (1968, YouTube) von Alexandra. Noch ein anderer ihrer Verse begleitet mich: "Illusionen blüh'n im Sommerwind, treiben Blüten, die so schön, doch so vergänglich sind" (Quelle). Die Schlager­sängerin selbst kam tragischer­weise bei einem Auto­unfall einige Monate zuvor, im Juli 1969, ums Leben. (Sie ist unter ihrem Künstler­namen auf dem West­friedhof in München begraben). Damals war für mich der Tod noch kein Thema, das mich berührte, sondern eher der Verlust durch Weggang oder Abschied."

(Der Bau der Breitenbachplatzbrücke, dem die Pappeln zum Opfer fielen, ist längst umstritten, und eine Bürgerinitiative setzt sich für die Wiederherstellung des Platzes ein.)

Besuch der Grundschule am Rüdesheimer Platz in West-Berlin, eine Schule zum Wohlfühlen in Pavillonbauweise für die Klassenräume, gleich daneben ein Sportplatz mit Turnhalle, etwas besonderes in der Stadt. Und ich habe Klassen­kameraden, aus denen später "was geworden" ist – Beamte, Ärzte, Künstlerinnen ... (ob sie auch glücklich geworden sind, weiß ich nicht).

Neben meiner Grundschule und dem Sportplatz liegt eine öffentliche Jugendbücherei, die zu meinen liebsten Aufent­haltsorten damals als Kind gehörte. (Neben dem Berliner Grunewald als Zielort – immer wieder ab ins Grüne mit einem alten Damenfahrrad!) Ob die Bücherei damals schon "Eberhard-Alexander-Burgh-Bibliothek" hieß (benannt nach dem Berliner Jugendbuchautor), entzieht sich meiner Erinnerung.

Meine Mutter (ob mein Vater dabei war, weiß ich nicht mehr) besuchte eine Familie in Friedenau und hatte mich mitgenommen. Jetzt saßen wir um den Küchentisch herum. Alle plauderten. Ich saß stumm daneben, wusste nichts zu sagen, langweilte mich, und da entdeckte ich über mir auf dem Bücherregal ein gebundenes Buch mit dem Titel Durch die Wüste. Griff es mir, begann zu lesen, und ich war für die nächsten Jahre gefesselt – von Karl May. So sehr, dass mir mein Mutter später verbot, diese Bücher weiter aus der Jugendbücherei nach Hause mitzubringen. Über die Faszination an seinen Reisegeschichten im Wilden Westen, in Südamerika oder sonstwo auf der Welt konnte ich alles andere um mich herum vergessen!

Also las ich heimlich Karl May's Werke in der Jugendbücherei. (Natürlich las ich dort nicht nur Karl May, Enid Blyton, Pippi Langstrumpf und manch anderes. Ich stöberte auch in vielen Sachbüchern über das Universum, die Erde, Tiere und Pflanzen, Weltgeschichte und Themen mehr.) Eines Tages musste ich leider enttäuscht feststellen – Karl Mays Reise­abenteuer waren "nur" erfunden, Reiseerzählungen eben. Und dennoch – die Lust an Reiseabenteuern und sein Appell an das Gute und Edle im Menschen selbst unter widrigen Umständen durch seine Romanfiguren wie Kara Ben Nemsi/Old Shatterhand, Winnetou, Old Firehand und Old Surehand sowie andere heldenhafte Begleiter, das hatte mich bereits irgendwie im Herzen positiv geprägt. (Danke, Herr May!)

Auf jeden Fall – Bücher, ihre Inhalte und ihre Herstellung faszinierten mich. (Was mein späteres Leben innerhalb von zweieinhalb Jahrzehnten, ab 1972, nach und nach entscheidend prägen sollte – als Buch­binder [Herstellung, Restaurierung], Biblio­thekar [Erfassung], Sach­bearbeiter für "Leser­fragen" und anonymer Autor der Watch­tower Society [Quellen­werke zu Nach­schlage­zwecken] und die letzten 12 Jahre bis 2008 [namentlich veröffentlichte Aufsätze in Sammelbänden zur Zeitgeschichte].)

Mein erstes "Buch" hatte ich sehr viel früher, am 12. Mai 1960, auf der recht langen Busfahrt mit vielen Kindern von West-Berlin nach Schleswig­Holstein, das Ziel war Wyk auf der nord­friesischen Insel Föhr, durch eine neben mir sitzende Betreuerin geschenkt erhalten. Vielleicht hatte sie mich gefragt, was ich denn haben möchte, weil mir die Zeit lang wurde, und ich sagte: ein Buch. Sie hatte nur ein kleines, in weißen Kunststoff einge­bundenes Büchlein eines Arznei­mittel­herstellers bei sich (ich glaube, es war von der Firma Bayer, die das Asperin herstellt), das sie mir schenkte, damit ich darin malen konnte, wohl kaum "lesen" (ich war Erst­klässler). Außerdem verstand ich fast kein Wort in dem fach­medi­zinischen Katalog, auch wenn ich mir noch so viel Mühe gab, die fremden Wörter und Namen von Medi­kamenten und Produkten zu entziffern, ... schade. Foto Das war ziemlich frustrierend. (Naja, später ging's bei den ur­sprachlichen Wörtern der Bibel, die ich für die Beantwortung von "Leserfragen" und "biblischen Fragen" als Sachbearbeiter (und ebenso über zwei Jahrzehnte lang für Zeitschriftenartikel und Beiträge als anonymer Autor für die Watchtower Society) anhand alt­griechischer und alt­hebräischer Fach­wörterbücher unter­suchte, zumindest etwas leichter beim Entziffern!)

Als Kind war ich stolz auf eine eigene kleine Büchersammlung (Foto) in einer Ecke des Kinderzimmers (mein Schreibtisch stand am Fenster mit Blick zum Breitenbachplatz), und ich erfasste jedes Buch meiner "Bücherei" mit einem Kinder­stempel und schrieb meinen Namen daneben. (Viele Jahre später sollte ich solche Arbeiten mit Büchern etwas profes­sioneller in einer großen Bibliothek verrichten. Zuerst in Wiesbaden und nach Verlegung des Zweig­büros der Watchtower Society nach Selters/Taunus in einen riesigen neuge­bauten Büro- und Druckerei-Komplex, wo die Haus­bibliothek der Redaktion und Über­setzungsabteilung die Mitte einer ganzen Etage einnahm.)

Unter Künstlern

Unser Wohnhaus, Kreuznacher Straße 70, liegt parallel zum Südwest­korso und ist Teil der legendären, zeit­historischen "Künstler­kolonie Berlin" in Wilmersdorf, die noch eine ganz besondere Rolle für mich spielen sollte. Bei unserem Häuser­block befinden sich Einkaufsgeschäfte; darüber steht: "Läden der Künstler." Viele unserer Nachbarn hatten beruflich etwas mit Kunst, Bühne, Rundfunk, Fernsehen, Film oder Bildung zu tun oder waren inzwischen pensioniert.

Professor Wolfgang Benz von der TU Berlin wohnte nur einige Häuserblocks entfernt im Südwestkorso. Er war dort Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Viele Jahre später (1996) warf ich ihm meine Anfrage in den Briefkasten (wahrscheinlich hatte ich vorher bei ihm geklingelt geklingelt, ich weiß es nicht mehr, uns ihn nicht zu Hause angetroffen), ob wir in seinem Zentrum die Premiere der "Standhaft"-Videodokumentation durchführen dürften (auf das Video gehe ich ebenfalls unten näher ein) – aber ich möchte jetzt nicht vorgreifen. Noch folgendes: Gleich neben uns, im Nachbarhaus Kreuznacher Straße 68, wohnte Dr. Gabriele Yonan, die sich für religiöse und ethnische Minderheiten engagierte, und die ich damals natürlich noch nicht kannte, aber viele Jahre später sollten wir gemeinsam referieren und publizieren!*

* Frau Dr. Yonan hatte an der FU Berlin über Thomas Mann promoviert, was später unter anderem ein Auslöser für ihr Interesse an der Verfolgungsgeschichte und der Haltung der Zeugen Jehovas oder Bibelforscher unter dem NS-Regime war. Denn es faszinierte sie, was der Nobelpreisträger darüber 1938 bewundernd in einem der Wissenschaft wenig bekannten Statement geschrieben hatte. (Darüber sollte ich Jahre später ebenfalls einen Fachartikel schreiben.) Sie kämpfte damals und sicher heute noch für benachteiligte Gruppen und auch ihre Assyrer. Nachdem ich mich 2008 zurückgezogen hatte, erreichte mich eines Tages ein Anruf von ihr als ich gerade mit dem Radl an der deutsch-österreichischen Grenze an der Saalach unterwegs war (meine Adresse und Telefonnummer standen damals im Telefonbuch), was mich freute; und wir sind auf "facebook" befreundet, aber ich verhalte mich nach 2008 ziemlich passiv im allgemeinen bei Kontakten – sorry, hatte einfach nicht die Zeit oder Ruhe für Kontaktpflege.

Im Nachbarhaus zum Südwestkorso hin (unsere Fenster im Häusereck direkt gegenüber, wir konnten uns zuwinken) wohnte ein süßes kleines Mädchen, meine Klassenkameradin in der Grundschule am Rüdesheimer Platz, Denise Gorzelanny. (Später wurde sie Sängerin, Künstlerin und Synchronsprecherin sowie Schauspielerin wie ihre Mutter Gitta Winter, die 1963 mit Rex Gildo, Heinz Erhardt u.a. Stars Filme drehte, was mir aber damals als Junge nicht bewusst war.) Ich mochte Denise wegen ihrer Heiterkeit (noch heute weiß ich einen Witz mit Klein Fritzchen und Klein Erna, den sie mir kichernd vor dem Haus erzählte). Mein heimlicher Schwarm aber waren Schulmädchen mit dem schönen Vornamen "Christine", der mir besonders gefiel.

Denise, meine Grundschulkameradin aus dem Nachbarhaus, nahm mich einmal zur Teilnahme an einem Fotoshooting in einem Studio in der Schloßstraße (Steglitz) für einen Kindermoden-Katalog mit. Wir posierten als Kindergruppe vor der Kamera (für welches Mode- oder Versandhaus weiß ich nicht mehr). "Entdeckt" wurde ich dabei nicht als Kindermodel, ich hatte auch nicht das Zeug und die Geduld dafür, glaube ich.

Als der Fotograf bei einer Szene plötzlich unentschlossen schien und überlegte, die Kinder anders anzuordnen, machte ich spontan den Vorschlag (obwohl ich sonst eigentlich schüchtern und still war), mich anders hinzustellen, also für einen geänderten Bildaufbau. Das behagte ihm nicht. Das konnte ich an seiner abweisenden Kopfbewegung sehen. Von Denise erfuhr ich, dass er danach gesagt hatte, sie braucht mich nicht mehr mitzubringen. Nein, ich war nicht enttäucht. In mir steckte aber etwas, was ich nicht erklären konnte. Den Eltern erschien mein Mundwerk "vorlaut", anderen erschien ich als "Besserwisser". Und war ich nicht oft ein "Fettnäpfchentreter", wenn ich schon mal den Mund aufmachte? (Sehr viel später sollte ich in Besprechungen, bevor überhaupt ausgeredet war, schon "Lösungen" für ein Problem präsentieren, ohne scheinbar überhaupt nachgedacht zu haben. Meine Gedanken eilten mir stets voraus, oder sprangen wie ein Gummiball, ein blitzschnelles Ahnen von Zusammenhängen, eine Intuition, auch für das Befinden anderer, ohne mir dessen bewusst zu sein oder gar zu wissen, was dahinter steckt. Das sollte ich erst rund 50 Jahre später anfangen zu entdecken – und langsam zu verstehen. Mit dem Thema Sensibilität bzw. Hochsensibilität habe ich vor, mich noch weiter zu beschäftigen.)

In der "Künstlerkolonie", wo wir im südlichen Zipfel in der Kreuznacherstraße Ecke Südwestkorso wohnten, haben also Künstler und andere begabte Menschen gewohnt, deren Namen ich heute dank Wikipedia weiß, wie Ernst Bloch (Philo­soph), Franz Cornelsen (Verleger), Lil Dagover (Schauspielerin), Sebastian Haffner (Publizist), Klaus Kinski (Schauspieler), Walter und Willi Kollo (Komponisten), Klaus Schütz (ehem. reg. Bürgermeister von West-Berlin) und viele weitere. Nicht, dass ich wie solche Menschen berühmt werden will (nein, ich wollte damals schon nicht berühmt, sondern glücklich werden). Mir imponierte einfach, und das bis heute, was Herz, Verstand und Begabung von Menschen leisten und zu erreichen vermögen. Eine wundervolle Gesangstimme zum Beispiel – Gänsehautfeeling (bei mir)!

Ich selbst schien als Kind überhaupt keine Begabung oder eine Neigung zu besitzen, sei es handwerklich (wie mein Vater oder Bruder), sei es für Musik (wie etwa meine späteren "Glaubensgenossen" Michael Jackson oder Prince, sonst hätte ich ausgesorgt, andererseits bin ich lieber quicklebendig). Noch für das Schauspiel (wie meine Namensvetterin Katrin Wrobel, bin auch nicht so hübsch wie sie, unsere "Miss Germany 2002"). Oder sei es für sonst etwas. Mir fiel auch nichts passendes zu wünschen ein. Stand quasi mit leeren Händen und meist mit einem leerem Kopf da, wusste mich nicht zu entscheiden, was Beruf oder Ausbildung betraf. Hatte nichts, dem ich mich widmen konnte. Was mich aber auszeichnete – das war perfekte Unentschlossenheit! (Erst viel später entwickelten sich persönliche Neigungen – in ganz andere Richtungen, wie oben beschrieben, also anders als Musik oder Schauspiel.)

Mission Impossible – Projekt "Lila Winkel"

In der West-Berliner "Künstlerkolonie", wo ich wie oben erwähnt wohnte, wird an einigen Hauswänden mit Gedenktafeln der unter der Hitler-Diktatur politisch verfolgten und ermordeten einstigen Bewohner gedacht. So auch auf dem zentralen Laubenheimer Platz, der noch während meiner Kinderzeit, im für mich bedeutungsvollen Jahr 1963, in "Ludwig-Barnay-Platz" umbenannt wurde. (Ludwig Barnay war deutscher Schauspieler und später auch Theater-Intendant.) Auf dem Platz steht seit 1988 ein Mahnmal für die politisch Verfolgten. (Schon vordem, während meiner Zeit in West-Berlin, so meine ich mich zu erinnern, könnte es dort auf dem Platz bereits einen Hinweis, vielleicht ein Schild, auf politisch Verfolgte unter dem NS-Regime in der "Künstlerkolonie" gegeben haben.)

Hier, auf dem Ludwig-Barnay-Platz, fasse ich anlässlich einer meiner späteren Berlin-Besuche Mitte der 1980er Jahre einen feierlichen Entschluss. (Das muss meines Erachtens zwischen Ende 1985 und Frühjahr 1986 gewesen sein oder eben etwas später, wenn es dort am 1988 errichteten Mahnmal war.) Ich setze mir damals zum Ziel, die bis dato allgemein fast unbekannte Verfol­gungs­geschichte und religiöse Unbeug­samkeit der Angehörigen der Religions­gemeinschaft Jehovas Zeugen (Bibelforscher, auch eine Zeitlang "Ernste Bibelforscher" in Deutschland vor 1933) gegenüber den politischen Ideologien und Forderungen der beiden deutschen Diktaturen nachhaltig und öffentlich­keitswirksam historisch aufzu­arbeiten sowie für ihre Bewahrung etwas zu tun. Die Forschungsarbeit sollte zunächst vor allem die NS-Zeit betreffen. Doch viele Zeit­zeugen dieser Epoche waren nicht mehr am Leben. Die Zeit drängte, das Thema war allgemein verpönt (daher sollte es vertraulich sein) – was konnte man (ich) da schon ausrichten, dachte ich mir?

Das war damals die Geburtsstunde eines vertraulichen, sehr persönlichen "Lebens­projekts", das noch ziemlich verschwom­men erschien, dem ich für mich den zielge­richteten Namen "Lila Winkel" gab, und später, als das Projekt reale, gigantische Formen annahm und um mich weiter zu motivieren, den zusätzlichen Label "jwhistory" (in Arbeit). Unter "jwhistory" (jw = Johannes S. Wrobel, Geschichtsforschung) sammelte ich meine zwischenzeitlich zahl­reichen namentlich veröffentlichten Manuskripte als Historiker und unver­öffentlichten Fachtexte und das mit dem Ziel, sie eines Tages zu Nach­schlagezwecken selbst zur Verfügung zu haben und für andere an der Sache Interessierten öffentlich zur Verfügung stellen zu können. (Ein großes Projekt, dem ich noch sehr viel, ja fast meine gesamte private Zeit von 1996 bis 2008 widmen sollte. Und inzwischen auch heute noch Zeit damit verbringe, in Arbeit/Vorbereitung unter lilawinkel.de. Das heißt, wenn ich gerade gesundheitlich dazu in der Lage bin. Leider stellten sich eine Zeitlang starke Schmerzen beim Sitzen vor dem Computer ein und andere gesundheitliche Probleme, so dass ich schließlich längeres Schreiben weitgehends vermied und auch die Artikel für die Ortszeitung und die Stadt Freilassing, meiner neuen Wahlheimat, die ich begonnen hatte zu schreiben, bislang aufgegeben habe. Vgl. das Schreiben des Bürgermeisters meiner Wahlheimatstadt. Alle meine heimatkundlichen Online-Projekte als "local historian" stagnierten nun, ebenso die Arbeit an www.lilawinkel.de. Siehe Hinweis. Lediglich Kurztexte am Smartphone im Rahmen der Kommentierung meiner Fotos auf Aus­flügen und Low-Budget-Trips, die ich aus thera­peutischen Gründen unternehme, konnte ich meist zeitgleich bei Facebook auf meinem Fotoprofil "Stephan Castellio" online stellen.)

Einige Besonderheiten der Thematik:

  • Öffentliche Proteste gegen Verbote und die Einschränkung der Religionsfreiheit und ihrer religiösen, unpolitischen Tätigkeit (durch den Berliner Sonderkongreß am 25. Juni 1933 und die Verbreitung der dort gefassten "Erklärung", zwei landesweite Flugblatt-Aktionen Mitte der 1930er Jahre, durch die Veröffentlichunge des unten erwähnten "Kreuzzug"-Buches 1938 in der Schweiz in Deutsch und Polnisch, und anderes mehr).
  • eine vielfach spektakuläre Untergrundtätigkeit der Gemeinschaft 1933 bis 1945 trotz Verbot und unmittelbarer Lebensgefahr (zB heimliche Vervielfältigung von Wachtturm-Schriften, die teilweise bis in die Konzentrationslager gelangten)
  • Verschleppung ihrer Kinder in "Erziehungs"-Heime (mit Zwangsarbeit), veranlasst durch deutsche Behörden (was zB bei der Familie Kusserow der Fall war)
  • Häftlingswinkel in der Farbe Lila für Zeugen Jehovas (Bibelforscher) in den Konzentrationslagern des braunen Regimes (also eine eigene KZ-Häftlingskategorie bis 1945, von denen es nicht viele gab)
  • Zahlreiche Hinrichtungen ihrer Kriegsdienstverweigerer ab 1939 (August Dickmann als erster und öffentlich im KZ Sachsenhausen erschossen, worüber sogar in den USA die New York Times vom 17. September 1939 berichtete)

Also ein bemerkenswerter Widerstand während der NS-Diktatur – gewaltlos, aus christlicher Überzeugung und auf der Grundlage eindeutiger Lehren der Bibel!*

* Vgl. zur Gewichtung des Themas den späteren Artikel im Tagesspiegel von Philipp Lichterbeck. Oder mein zusammenfassendes Referat vor dem Beirat der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin am 19. Juli 2001 (pdf).

Wie ich Bibel-Forschender werde

book Der christlichen, nicht­trinitarischen Religions­gemeinschaft "Jehovas Zeugen" (Zeugen Jehovas, Jehovah's Witnesses, ursprünglich Bibel­forscher) hatte ich mich als Kind durch meinen Vater Gerhard (27.05.1923 – 17.12.2013, Foto) und am 26. Juli 1963 in München auf einem Massen­kongreß der Zeugen Jehovas durch die Wasser­taufe in der Regel für Erwachsene (obwohl ich noch Kind war, was ich nicht wahr­haben wollte) freiwillig, begeistert und etwas spontan ange­schlossen – dort in München zusammen mit meiner Mutter Helga (21.06.1929 – 8.06.1993, Foto). Beide hatten wir niemandem vorher Bescheid gesagt, was sonst üblich ist, weil dann die Orts­gemeinde einen Blick auf die Tauf­bewerber wirft und mit ihnen die biblischen Voraus­setzungen bespricht (das entfiel hier im voraus in unserem Fall, die Belehrung wurde später nachgeholt).

Damals in München, auf dem inter­nationalen einwöchigen open-air Wachtturm-Kongress auf der Theresien­wiese mit rund 100.000 Anwesenden – eine unglaublich bunte, geeinte Schar von gleich­gesinnten Menschen aus vielen Nationen, die dort täglich perfekt organisiert nicht nur Bibel­vorträge bei schönstem Sommer­wetter hörten, sondern sogar vor Ort verköstigt wurden! (Vertreter der Bundes­wehr seien gekommen, um sich die reibungslose perfekte Massen­abfertigung im Cafeteria-Stil anzuschauen, hörte ich in der Münchner Unterkunft jemand berichten.)

Zuvor, also bis Ende der 1950er Jahre, war ich als Kind meist sonntags katholischer Kirchgänger gewesen (während die Mutter das Sonntags­essen vorbereitete; Vater war wegen seiner Erfahrungen im Weltkrieg zwar nicht an der Kirche interessiert, doch an der Bibel, die er ziemlich eifrig las und sie zu verstehen suchte), allerdings gleichzeitig mit gelegent­lichen Besuchen zusammen mit meinem Vater bei den Gottes­diensten der Mormonen (1960), deren amerika­nische Missio­narinnen bei uns zu Hause eines Tages geklingelt hatten. Ein amerika­nisches Mädel, die ich ganz nett fand, studierte mit mir das Buch Mormon; davon existiert noch ein Foto.

Um diese Zeit klingelte ein Ehepaar der Zeugen Jehovas an unserer Wohnungs­tür in der Joachim-Friedrich-Straße 26 (dunkles Hinter­haus, zweiter Stock, was sie beim Evangelisieren nicht abhalten konnte). Vater, ein geborener Katholik, war wie oben erwähnt Bibelleser und Wahrheitssuchender, lud die Vertreter beider Sondergemeinschaften dann zu einer gemein­samen Diskussion zu uns nach Hause ein. Daraus gingen die Zeugen Jehovas aufgrund ihrer Bibel­auslegung vor den Mormonen als Favoriten hervor, und wir begannen ein Bibel­familien­studium mit dem Ehepaar anhand eines Buches mit dem viel­versprechenden Titel Vom verlorenen Paradies zum wieder­erlangten Paradies. Vater wurde Ende 1962 ein getaufter Zeuge Jehovas, gleich­zeitig ließ sich mein drei Jahre älterer Bruder damals anläßlich eines Kongresses der Zeugen Jehovas in einer der Messe­hallen am Berliner Funkturm taufen. (Die Wasser­taufe, die bei Jehovas Zeugen durch vollständiges Unter­tauchen vollzogen wird, ist eine Gläubigen- und keine Säuglings­taufe. Daher geht ihr in der Regel eine Befragung oder Prüfung des Taufan­wärters voraus, was mir Buben aber versagt wurde, weil ich dafür noch zu jung schien.)*

* Ich ging schon eine Weile sonntags nicht mehr zur katho­lischen Kirche, sondern mit meinem Vater und Bruder, manchmal kam auch die Mutter mit, in den "Königreichs­saal" der Zeugen Jehovas, wie ihre Anbetungs­stätte heißt und wo ihre offenen christlichen Zusammen­künfte mit Lied und Gebet, Bibel-Vorträgen und der Besprechung eines Wachtturm-Studien­artikels zusammen mit den Anwesenden durch­geführt werden. Der Saal besteht aus einer Bühne für den Redner, der kein Priester wie in der katho­lischen Kirche ist, und vielen Stuhl­reihen für die Zuhörer­schaft. Die Räum­lichkeit war schlicht und geschmackvoll eingerichtet, ohne Heiligen­bilder, Kerzen und dergleichen, wie ich es von der katholischen Kirche gewohnt war book (was mich übrigens bei den Katholiken nicht ansprach; dagegen fand ich die biblischen Geschichten, Gleichnisse Jesu und Reisen des Apostels Paulus in den Sonntags­predigten des katho­lischen Pfarrers immer recht spannend – später sollte ich einige der historischen biblischen Orte in Israel, Griechenland und der Türkei besichtigen).

Das Ganze Werk der Zeugen wird durch die freiwilligen Spenden der einzelnen Gläubigen unterhalten, die man in einen Spenden­kasten am Ausgang werfen kann. Die Zeugen Jehovas nennen ihre Religion "Wahrheit" und bezeichnen sich selbst und behandeln sich als "Brüder" und "Schwestern", ungeachtet der Herkunft oder Hautfarbe, und das weltweit (wie ich auf meinen weiten Reisen in späteren Jahren noch durch ihre Gast­freundschaft kennen- und schätzen lernen sollte).

Im rückwärtigen Teil des Saales war eine Literatur­ausgabe, und auf einem kleinen Tisch lagen einmal ältere Bücher der Wachtturm-Gesellschaft zur freien Verfügung. Ich durfte mir das Buch "Die Wahrheit wird euch frei machen" (Foto) mitnehmen. Das Buch weckt mein Interesse für die Schöpfungs­geschichte der Bibel, wie Universum und Erde begannen, erklärt den Unterschied zwischen "Religion" und wahrer Anbetung Gottes, wie das ursprüngliche irdische Paradies Eden durch Rebellion den ersten Menschen und damit uns allen verloren ging und wie das künftige weltweite Paradies durch Jesus Christus in der Zukunft wieder­hergestellt werden wird. Das waren alles faszinierende Gedanken, die ich ernst nahm und die mein Denken und Leben nachhaltig beeinflußten. (Der Buchtitel begleitet mich bis heute, denn wenn­gleich das Jesus­zitat aus Johannes 8,32, "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen", mit dem Religions­system seiner Tage zu tun hatte, gilt doch grundsätzlich – Freiheit und Freisein folgt dem Erkennen und der Erkenntnis von Wahrheit.)

Mutter blieb zunächst "katholisch" bis zum erwähnten Massen­kongress auf der Theresien­wiese in München im Sommer 1963 – ein spontaner Entschluß unter dem Eindruck dieses phantastischen inter­nationalen Kongresses mit seiner bunten Fried­fertigkeit und Einheit und der dort gehörten biblischen Vorträge. Nach unserer Spontantaufe studierten wir noch weiterhin die Bibel mit dem kinderlosen Ehepaar, das uns regelmäßig besuchen kam, bis es Zeit wurde, dass mein Vater die Leitung unseres Familien­bibelstudiums übernahm, was er zögerlich tat; er war zwar ein guter Leser, aber kein Redner, der sich auch sonst schwer tat, sich auszudrücken.

Die Lehre der Zeugen sprach mich als jungen, freiheits­liebenden und opfer­bereiten Menschen sehr an (obowohl ich noch Kind war) – das heißt der biblische Glaube an die verheißene "kommende" (zu erwartende) gerechte, friedliche und brüder­liche neue Weltordnung ohne politische Grenzen und Unterdrückung unter dem Königreich oder der himmlischen Regierung Gottes ("Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden", Matthäus 6,10), befreit von Krankheit, Altern und Tod (dort dann die irdische Auferstehung der Verstorbenen und ewiges Leben im erden­weiten "Paradies" für alle gehorsamen Menschen) – eine perfekte Welt mit perfekten Menschen (allerdings haben sie 1.000 Jahre Zeit zum weiteren Lernen, um bei der ebenfalls in der Heiligen Schrift, der Bibel, im letzte Buch "Offenbarung" prophezeiten Schlussprüfung nicht zu versagen).

Ich lebte fortan bereits als Kind in unmittelbarer Nah­erwartung dieser "neuen Welt", dem kommenden irdischen Paradies, nichts anderes schien mir wichtiger zu sein oder erste Priorität zu haben! Diese "Naherwartung" ist der Schlüssel, um meinen neuen Idealismus und den darauf folgenden alternativen, altruistischen Lebens­weg als junger Mensch zu verstehen – und das 36 Jahre lang.

Nach bzw. zu meiner Taufe 1963 erhielt ich von Gisela und Hans Voigt, die als Zeugen Jehovas mit unserer Familie zu Hause die Bibel studierten (über unsere Tauf­absicht hatten Mutter und ich sie wie oben erwähnt allerdings nicht vorab informiert, sie war etwas spontan erfolgt), aus Freude und Anerkennung eine Bibel geschenkt.* Das Ehepaar kümmerte sich auch sonst rührig um unsere Familie (blieb selbst aber kinderlos), packten hand­werklich auch schon mal zu und setzen sogar unsere Sexual­aufklärung bei den Eltern durch. (Das Thema Sexualität war sonst ein Tabuthema, gewissermaßen eine "lustfeindliche" familiäre Umgebung, wie das sicherlich in vielen, nicht nur katho­lischen Familien der Fall gewesen sein dürfte.)

* Die Bibel, die ich geschenkt erhalten hatte, war eine textgetreue Bibel­übersetzung vom Brockhaus-Verlag, die Elberfelder Bibel, was mich sehr freute. Sofort begann ich jeden Tag darin zu lesen. (Diese Bibel­übersetzung, ebenso die Volks­ausgabe, die ich hatte, enthält erklärende Fußnoten, zum Beispiel zur Bedeutung einiger hebräischer und griechischer Namen, Orte und Begriffe, was mich faszinierte und prägte, Dingen auf den Grund zu gehen, die ursprüngliche Bedeutung und den Kontext eines Wortes zu ergründen, um seine Bedeutung richtig einzuordnen und zu verstehen.)

Die Ausgabe der Elberfelder Bibel, die damals unter den Zeugen Jehovas in Umlauf war (der Druck von 1905), gibt durchweg das hebräische Tetragrammaton, den Gottesnamen JHWH, nicht wie meist in anderen Bibelübersetzungen üblich, mit HERR, sondern mit "Jehova" (Jahwe) wieder. (Auf Grund von gängigen theologischen Theorien über den Gottesnamen hatten die Herausgeber inzwischen "Jehova" in revidierten Fassungen der "Elberfelder Bibel" entfernt. Da die "richtige" Aussprache des Namens Gottes über die Jahrtausende nicht bewahrt worden ist, scheint sie nicht wirklich wichtig zu zu sein, sondern vielmehr der eigentliche und respektvolle Gebrauch des Namens, wie das in biblischen Zeiten noch unbefangen im täglichen Leben üblich war, zum Beispiel in Grußformeln, und auch in Personen­namen zum Ausdruck kommt, und das heute in irgend einer üblichen Form einer Landes­sprache, ungeachtet der abergläubischen Scheu, ihn überhaupt nicht mehr auszusprechen. Wir sprechen alle biblischen Namen ohnehin nicht so aus, wie es einst die alten Hebräer taten oder beispielsweise heute die Juden in modernem Hebräisch tun.)

Meine Bibel sah eines Tages beinahe so zerlesen aus wie die Lutherbibel meines Vaters! (Heute kann man im Internet sekundenschnell Bibeltexte finden, wenn man weiß, wie es geht ..., vergleichend in unterschiedlichen deutschen Bibelübersetzungen online lesen, zB auf Webseiten der EKD, der Deutschen Bibelgesellschaft oder in zahlreichen Sprachen in der Online-Bibel der Watchtower Society.)

Die Bibel als Geschichts- und Offenbarungsbuch faszinierte mich, und ich wollte fortan überhaupt Dingen auf den Grund gehen: Mich interessierten dabei Realitätsbezüge und authentische historische Orte, an denen die in der Bibel erwähnten Personen, wie Abraham (Stammvater Palästinas durch Ismael und Israels durch Isaak), Moses (Zehn Gebote als Basis für Ethik), König David (übrigens ebenso ein erfolgreicher Poet wie sein Sohn Salomo), Jesus von Nazareth (der Christus und verheißene Messias) oder der Apostel Paulus (sein hebräischer Name war Saulus, sein römischer Name Paulus, beide Namen waren damals in Gebrauch) wirklich gelebt hatten – ich wollte keine "Erfindungen" lesen und glauben wie einst bei den Erzählungen von Karl May. (Winnetou hat nie gelebt, aber die Protagonisten der Bibel, und sie haben sicherlich irgend welche Spuren hinter­lassen, die ich suchen konnte – in Museen oder wenn möglich, am authentischen Ort im Nahen Osten, zum Beispiel die Pontius-Pilatus-Inschrift von Caesarea, siehe unten.)

Im Laufe der Jahre besichtigte ich archäo­logische Exponate und Artefakte, die mit dem Alten und Neuen Testament verknüpft sind (zB in Museen in Ost-Berlin, Paris, London, New York, Athen und Jerusalem), Ausgrabungsstätten (zB Ephesus/Türkei [Museum] und Cäsarea/Israel) und Schau­plätze (zB viele Stätten in Israel oder besuchte die Insel Patmos/Griechenland, wo der Apostel Johannes die apoka­lyp­tischen Visionen im letzten Bibel­buch, der Offenbarung, erhalten hatte).

Bereits als Teenager begann ich Bibel­über­setzungen und Bibel­kom­mentare sowie alt­hebräische und alt­griechische Wörterbücher zu sammeln (also in den Ursprachen der Bibel), auch Konkordanzen, wo ich Wörter nachschlug, um ihre biblische Bedeutung besser zu verstehen. Neben der Elberfelder Bibel benutzte ich zum Beispiel das Konkordante Neue Testament. Mich interessierten einfach Fakten rund um die Bibel!

In der Oberschule las ich einmal freudig erstaunt, "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!" (Johann Wolfgang von Goethe). Ja, diese Aussage entsprach meinem Empfinden als Mensch, nicht nur als junger Zeuge Jehovas, und wurde schließlich eine Lebens­maxime! Ich suchte natürlich wie oben erwähnt meinen Bibel­glauben mit der Realität, säkularem Wissen und meinen Erfahrungen zu vergleichen und zu kombinieren. (Gebe zu, dass ich trotzdem zunächst etwas weltfremd blieb, was ich heute aber nicht mehr behaupten würde!)

"Ich bin ein Berliner!"

Am 26. Juni 1963, einen Monat vor dem Massen­kongress­besuch in München und meiner Taufe dort, stand ich als Steppke mit zahl­losen jubelnden Berlinern in der Schloß­straße und sah den US-Präsidenten John F. Kennedy vorbei­fahren – "Ich bin ein Berliner!", sein vom Radio­sender RIAS direkt übertragener Ausruf vor dem Rathaus Schöneberg als Symbol für (poli­tische und persönliche) Freiheit nahm später mehr Bedeutung (siehe Blogspot) für mich an.

Übrigens, die Eltern von Kennedys Amts­vorgänger, General Dwight D. Eisenhower, dem 34. US-Präsidenten von 1953 bis 1961, waren eben­falls Zeugen Jehovas (Jehovah's Witnesses, Bible Students, Bibel­forscher). Es war Eisenhower, der als Ober­komman­dierender der Alliierten an der West­front dazu beigetragen hatte, den Zweiten Weltkrieg zu beenden und Zigtausende von Häftlingen und Arbeits­sklaven, darunter die verfolgten Bibel­forscher oder Zeugen Jehovas, seine ehe­maligen Glaubens­brüder, aus ihrem Elend zu befreien.

Über die NS-Verfolgungs­geschichte sollte ich später viel mehr erfahren, obgleich ich zur gleichen Zeit, ab 1963, bereits etwas damit in Berührung kam. Denn jeden Dienstag­abend besuchte ich eine Bibel­stunde ("Versammlungs­buchstudium" genannt) in der Ahrweiler Straße in Wilmersdorf in der Wohnung von "Schwester Kluge" (Vorname Klara?), und diese ältere Zeugin Jehovas war wegen ihres Glaubens unter Hitler verfolgt worden, sprach darüber jedoch so gut wie garnicht in dieser Runde. (Wenn ich mich recht erinnere, hat sie nur einmal kurz über die Verfolgungs­zeit berichtet als wir sie einmal privat besuchten.)

Damals war für mich in West-Berlin die weitere, nach 1945 ein­setzende heftige staatliche Verfolgung der Zeugen Jehovas (Bibel­forscher) in Deutschland, diesmal in der DDR des SED-Regimes, weitaus präsenter, und ich erinnere mich, wie ich bald bei einem Aufenthalt in Schweden danach gefragt wurde. Meine Gastfamilie interessierte sich dafür.

Erst sehr viel später, nach dem Lesen des Jahrbuchs der Zeugen Jehovas 1974, das einen ergreifenden, umfang­reichen Verfolgungs­bericht unter den Diktaturen in Deutschland enthält (anonym verfasst von Konrad Franke und gekürzt weltweit veröffentlicht durch die Redaktion in Brooklyn N.Y., USA, was die Gemeinschaft auf der ganzen Erde für das Thema sensibilisierte; siehe mehr Details zum "Jahrbuch 1974"-Bericht unten), begann mich das Thema tiefer zu berühren. Und erst nach einer Besichtigung der KZ-Gedenkstätte Dachau anlässlich eines Besuchs in München begann die Verfolgungs­geschichte durch den authentischen Ort des Grauens und des Todes für mich lebendig, ergreifbar, folglich "begreifbarer" zu werden, ohne zu ahnen, wie tief ich in der Zukunft in diese Materie eindringen und was meinen Lebenslauf entscheidend beeinflussen sollte!


RÜCKBLiCKE, 1964 – 1967

Mehrere längere Sommerferienaufenthalte als Berliner Schüler bei Gastfamilien im Ausland, organisiert von der Abteilung "Jugend und Sport" der West-Berliner Senatsverwaltung. Die ausgewählten Berliner Jungen und Mädchen gingen unter Aufsicht auf Gruppenreise und das mit der Eisenbahn bis zum Zielort, wo sie nach Ankunft vor Ort dann von der jeweiligen Gastfamilie abgeholt wurden.

Drei Länder, vier Gastfamilien – meine Sommereltern in Schweden, Österreich und Spanien

Schweden 1962 Die erste Sommer­ferienreise ins Ausland fand wahrscheinlich be­reits 1962 statt, und ich wohnte bei Familie Ruth und Carl Wallin und ihren Kindern Karin und Peter (im Foto auf einem Boot in Norrland mit der blau-gelben schwedischen Flagge, meinen Lieblings­farben), mitten in der schwedischen Stadt Lund, Trolle­bergsvägen. Dazu gehörte eine gemeinsame Ferien­reise mit der Gastfamilie in den Norden des Landes nach Norr­land, wahrscheinlich zu Ver­wandten. Erst heute kehren einige Erin­nerungen zurück – war damals wohl acht­einhalb Jahre alt. (Der Kontakt riss nach der Rück­kehr nach Berlin mit der Familie in Schweden ab, was meiner damaligen religiös bedingten Geschäftigkeit geschuldet ist, obwohl Gastvater Carl mir damals zwei liebe Briefe in ausge­zeichnetem Deutsch schrieb. Schade eigentlich. Tut mir leid.)

Im Jahr 1964 lebte ich dann als Gastkind bei Familie Stjernfält auf dem Land. Sie wohnten in einem abge­legenen Haus an einem Wald­rand mit ihrer Schafherde in Stora Ekshus, Ekeby bei Hälsingborg (Schweden) und ihrer deutschen Schäferhündin "Pia", mit der ich gern herumtollte. Wundervolle schwedische Sommer. Immer draußen an der Luft, trotz der vielen Mücken, die es leider in Süd­schweden reichlich gibt, sicherlich wegen die vielen Binnen­gewässer dort. Wenn im Fernsehen "Bonanza" lief, war ich im Haus, um die Western­helden anzuschauen. Die ruhige, aus­geglichene nordische Mentalität machte einen bleibenden guten Eindruck auf mich. (Später zog die Familie nach Skånes-Fagerhult, wo ich sie viele Jahre später einmal besuchte. Wir konnten uns nicht gut verständigen, da die Familie Sternfält – Asta, Henry und Lennart – kein Deutsch sprachen und ich kein Schwedisch.)

Pias munteres Bellen ist meinem Ohr schon lange ent­schwunden und vergessen. (Merkwürdig, nachdem ich viele Jahre danach auf der CD-ROM "Gegen das Vergessen. Eine Dokumentation des Holocaust" als stetes Hinter­grundgeräusch das scharfe Bellen der wachsamen, beißenden SS-Schäfer­hunde hören musste – wie wohl einst Tag und Nacht die zahllosen Häftlinge und Todes­kandidaten im deutschen Konzentrations- und Ver­nichtungslager Auschwitz-Birkenau, Oświęcim, Polen –, kehrt heute das schreckliche Bellen der Wach­hunde in mein Ohr zurück, wann immer ich an das ehemalige Todes­lager denken muss, das ich 2004 als Referent anläßlich einer Ausstellungs­eröffnung besuchte und kennenlernte.)

Das nächste Sommererlebnis war 1965 in Österreich auf dem Berg­bauernhof von Familie Eichberger mit einem Dutzend Kühe bei Rachau, Glein 33, Post Knittel­feld, Steiermark, wo ich das Land­leben kennen­lernte, auch schon mal mit­machte, die Tiere zur Weide oder zurück zu treiben. Damals wusste ich noch alle Namen ihrer Kühe im Stall aus­wendig, und ich glaubte, sie niemals zu vergessen (was ein Irrtum war ...).

Einmal schlenderte ich zum Gast­vater auf die Wiese (auf dem Weg in den Wald, um "Schwam­merl" oder Pfifferlinge zu sammeln) als er gerade beim Sensen­mähen war, und als er mich sah, begann er zu Jodeln. "Wie jodelt man?", fragte ich gespannt. "Das steckt im Blut", erwiderte er, "das kann man einfach so!" Ich versuchte es, aber ich konnte nicht jodeln – fand ich schade!

Schließlich lebte ich 1968 in Spanien bei Familie Gras in Pedralbes, Avenida Espasa, Barcelona, einer Familie mit großem Anwesen am Rande der großen Stadt. Ferien­zeit als Freizeit mit Müßig­gang im warmen Mittel­meerklima! Doch ich studierte mein englisches Schulbuch und (heimlich) Wachtturm-Schriften (die Zeugen Jehovas waren damals in Spanien als Religions­gemeinschaft verboten), las jeden Abend vor dem Einschlafen in meiner Elberfelder Bibel, versuchte im großen Garten am Klavier im Musik­pavillon ohne Noten kurze Melodien zu "komponieren" (klimpern) und entdeckte Zeichnen vorübergehend als persönliche Ausdrucksform.

Einmal kam das junge Zimmer­mädchen Sarita Losada zum Putzen herein (ich hatte das Zimmer von Alberto Gras bekommen), und sie sah mich ein Portrait zeichnen (aus meiner Phantasie) und forderte mich auf, sie zu zeichnen – was ich vehement ablehnte! Ich war viel zu schüchtern, ungeduldig und überhaupt nicht überzeugt von meinem Zeichen­talent! (Schade, wäre vielleicht eine Möglichkeit gewesen, etwas zu probieren, egal wie es ausgeht. Ich hätte das Portrait probieren sollen, auch wenn es eine Karikatur oder "moderne Kunst" geworden wäre! So versäumt man Möglichkeiten.)

Im Musikpavillon, dort im weitläufigen vom Gärtner und Haus­meister Rafael Bueno Salas gepflegten mediterranen Garten der Familie Gras, ein kleines "Paradies", konnte ich nicht auf­hören, die toll illustrierten Bände mit den Abenteuern von Tintin und Milou/Snowy (Tim und Struppi) anzuschauen. (War viele Jahre ein Fan von ihnen gewesen bis Comics in Vergessenheit geraten.) Mein Klavier­spiel und Lesen unterbrochen vom Ruf der Köchin Carmen Morales Lora, doch endlich zum Mittag­essen zu kommen – Paella Valenciana! (Mhm, lecker – leider bekam ich das Reisgericht anderswo nicht mehr so gut und lange in der Pfanne zubereitet wie bei der spanischen Familie! Ich habe Paella mit Huhn und Meeresfrüchten nur noch einmal in sehr guter Erinnerung, und das war bei einem Besuch mit Gene Smalley von der Watch Tower Redaktions­abteilung und seiner deutschen Frau in einem spanischen Restaurant in Manhattan, New York City, viele Jahre später!)

Wenn Javier Gras, der älteste Sohn der Familie, aus der Schule kam, verbrachten wir Zeit miteinander am Swimming­pool, hörten zusammen mit seinem Freund Pedro Verges (der ebenfalls in Pedralbes wohnte) Rock­musiker wie Jimi Hendrix, liefen zu Fuß zum Ver­gnügungspark Tibidabo, um dort Live­konzerte von bekannten Musik­gruppen und Sängern wie Johnny Hallyday mitzuerleben. (Durch den regen Kontakt, wir sprachen nur Deutsch, erhielt Javier die Möglichkeit, seine Deutsch­kenntnisse und Schul­noten für den Deutsch­unterricht zu verbessern, was wohl der Wunsch seiner Eltern war als sie mich als Gastkind aus Deutschland akzeptierten.) Ebenso war ich mit Alberto, dem jüngsten Sohn der Familie Gras, zusammen, und wir spielten gern und viel Tischtennis, wobei Pepin Coca, der Nachbar­junge, manchmal mitspielte – so lernte ich auf Spanisch zählen, zumindest bis 12!

Peppins Familie bewohnte in Pedralbes in der Straße Montevideo gegenüber meiner Gastfamilie Gras ein riesiges verwildertes mediterranes Landareal mit einem verschlossenen, stillgelegten Stollen oder finsteren Brunnen­tunnel, wo wir "Abenteuer" bestanden. In dieser Wildnis hausten Eidechsen und Schlangen, auch die gefährlichen Skorpione, vor denen Pepin Coca mich warnte.

Pepin hatte zwei hübsche Schwestern, die etwas älter als wir waren, die manchmal zu uns zu Familie Gras herüber­kamen, und mich dann am Swimming­pool verlegen machten durch ihre schon sichtbaren Busen oder Brüste – die eigentlich etwas ganz normales, natürlich weibliches, menschliches sind. Als eifriger Bibelleser war ich mit den geheimnisvollen Reizen der Weiblichkeit "theoretisch" vertraut, vgl. das Bibelbuch Hohelied 4,1-5 (zitiert laut Elberfelder Bibel 1905): "Meine Freundin, siehe, du bist schön: Deine Augen sind Tauben hinter deinem Schleier ... Deine beiden Brüste sind wie ein Zwillingspaar junger Gazellen, die unter den Lilien weiden."

Aber in der sozialen Praxis und Realität meiner damaligen Welt haperte es doch gewaltig – und um "nackte" Einblicke zu gewinnen, die es eigentlich schon umsonst am FKK-Strand oder in einer Sauna gibt, sollte man sich quasi auf eine Ehe einlassen, was jetzt nicht zu verallgemeinern oder gar auf eine Religionsgemeinschaft als Ursache zu projizieren ist – denn meine Situation war familiär und von der sozialen Herkunft bedingt. (Zu dem vor allem für junge Menschen interessanten Thema der geheim­nisvollen Reize aus "männlicher" oder "weiblicher" Sicht, vor allem zum Thema Sex, dazu siehe unten einige Beobachtungen.)

Mit Pepins Schwestern hatte ich nichts im Sinn. Dagegen fühlte ich mich zu einem bereits älteren Mädchen hingezogen, Magdalena, die in der Nachbar­schaft wohnte, einige Häuser weiter in der Straße Montevideo. Magdalena hatte schönes langes schwarzes Haar, und wir konnten uns ab und zu in Englisch vor ihrer Haustür brav unterhalten. Später schrieb mir Magdalena einen Brief in Spanisch nach Berlin, den ich nicht verstand. Ich gab ihren Brief einer Zeugin Jehovas, die aus Nicaragua stammte zum Übersetzen, worauf sie meine Mutter über meinen Kontakt zu einer weiblichen Person "infor­mierte", die mir daraufhin Vorhaltungen machte. (Eine unzutreffende, übertriebene Verdächtigung meiner Mutter auf Unmoral in sittlicher Hinsicht von meiner Seite, eine sündige Tat in religiösem Sinne. In solch einer Atmosphäre wuchs ich im Elternhaus auf, was sicherlich auch mit der einfachen, konservativen Herkunft meiner Eltern ursächlich zu tun hatte und nicht mit ihrer Religion, sei es die ursprünglich römisch-katholische oder weil sie jetzt bei Jehovas Zeugen waren.)

Ein vorbildlicher unverheirateter Zeuge Jehovas vermied es nämlich, eine weibliche Person überhaupt sinnlich anzusehen oder zu berühren. Daran hielt ich mich, war aber neugierig und fasziniert von dem "Geheimnis" Weiblichkeit.* "Wie die Weiblichkeit einen Mann erfreuen kann, so kann die Männlichkeit eine Frau erfreuen", so oder ähnlich heißt es später in einem sachlichen, hilfreichen Aufklärungsbuch der Wachtturm-Gesellschaft für junge Leute, und auch die Bibel ist in ihren Jahrtausende alten sachlichen oder poetischen Beschreibungen des Themas nicht prüde. Feste Bekanntschaften ohne die Absicht zu heiraten, waren aber verpönt. Der Austausch von Zärtlichkeiten und Küssen war Paaren vorbehalten, die hei­rateten. Die Weiblichkeit an sich, der ich im Grunde mein Leben durch Zeugung und Geburt mit zu verdanken hatte, und die ich bewunderte, entschwand für mich als pubertierenden Jugendlichen in einen fernen romantisierten Raum unrea­listischer Schwärmerei, die mit der Realität wenig zu tun hatte. (Ein echtes Hindernis für eine Beziehung.)

* Sex ist für Zeugen Jehovas, ähnlich wie weltweit für Millionen anderer streng­gläubiger Menschen verschiedener Konfessionen, nur innerhalb der Ehe ehrbar, statthaft oder erlaubt. Geschlechts­verkehr ausserhalb der Ehe oder sexuelle Handlungen mit einer anderen Person (wie sie in einem Bordell üblich sein sollen) können dazu führen, dass sich der unschuldige Ehe­partner, der Zeuge Jehovas ist, biblisch gültig und rechtlich scheiden lassen kann.

Ich weiß nicht (mehr), was in Magdalenas Brief stand – sicherlich nur harmlose und höfliche Nettigkeiten! Ich hatte mich mit Magdalena lediglich mehrmals unterhalten;* es war kein bewusster Flirt. (Natürlich wollte ich bereits damals als Teenager, glaube ich, später nicht zu früh eine Ehe eingehen oder Familie gründen und mir Zeit lassen.)

* Wir West-Berliner im freiheitlich-demokratischen Westen (von der DDR als "Westberlin" bezeichnet – man wollte uns von der "BRD", der Bundesrepublik Deutschland getrennt wissen), von einer Mauer und mit Schusswaffen bewachten Todes­grenze mit Schieß­befehl der DDR des SED-Regimes einge­schlossen, dazu nicht selten Verwandte im rigiden sozialistischen Ost-Berlins (meine Groß­mutter lebte dort), hatten damit immer Gesprächsstoff im Ausland. Auch Magdalena befragte mich in Spanien nach den Verhältnissen in West- und Ost-Berlin im fernen Deutschland.

So lernte ich als Kind und Jugendlicher unterschiedliche soziale Lebens- und Verhaltens­muster in Familien in Schweden, Österreich und Spanien kennen. (Was mich als Welt­bürger sicherlich mit gepägt und zu einem diversen, pluralistischen Denken geführt hat, offen für andere Nationalitäten und Respekt vor Anders­denkenden, ohne ihre Ansichten akzeptieren zu müssen.)


RÜCKBLiCKE, 1968 – 1969

"Hoch am Berge, wo kein Halm noch Strauch, abseits – ja dort, dort setz ich mein' Fuß. Will die Stille hören, Einsamkeit und Ruh" (2. August 1967, Eisenärzt, mein erstes "Gedicht", ein Reim).

Eigene lyrische Texte, lustige Reime und verträumte Fantasy-Gedichte gehören inzwischen zu meinem Lebens­inhalt, eigentlich "für mich" geschrieben, die Folge eines inneren Bedürfnisses, sich irgendwie auszudrücken (Kunst ist Ausdruck ... ☺).

Dazu kommen einige Tinten- und Buntzeichnungen (womit ich in Spanien zaghaft begann – ich hoffe künftig hier einige zu zeigen, dauert aber noch ..., vgl. ersten Link im folgenden Absatz, wo eine Zeichnung in der Einführung zur Thematik "Poesie & Literarisches" zu sehen ist). So entdeckte ich jetzt meine Liebe zur Poesie bzw. einen Hang zur Schriftstellerei, später zum kreativen Schreiben und journalistischen Texten (dazu gehört das lexikalische Schreiben), worauf ich unten und in Teil II (in Arbeit) eingehe.*

* Ursprünglich schrieb ich hier: "Wen das Poetische interessiert findet hier (hoffentlich) bald einen Link zu den Verschriftlichungen meiner Gedichte und Reime chronologisch nach Entstehung aufgereiht. Dauert noch ..." – inzwischen habe ich dem Thema "Poesie & Literarisches" eine Einführung/Übersicht und mit Text­beispielen meines bescheidenen poetischen "Schaffens" aus der Jugendzeit mit einfachen Mitteln eine eigene Homepage) gewidmet. Dort findet man das oben zitierte erste "Gedicht" mit einem Kommentar zu Entstehung und Hintergrund. ☺ (Siehe dazu das Foto rechts, das erst kürzlich hier hinzugefügt wurde.)

Sehnsucht und Geheimnis

Neben dem Meer gehörte den Bergen meine verklärende Sehnsucht – und dem tiefen dunklem Wald, diesem geheimnis­vollen und scheinbar mystischen Raum der Deutschen und ihrer Märchen, gesammelt durch die Gebrüder Grimm, die ich aufmerksam gelesen hatte.

Später waren für mich "märchenhafte" Wälder, ebenso wie schöne Gewässer, vor allem während der über dreißigjährigen Lebenszeit in Hessen, Kraftorte und Rückzugs­gebiete zum Erholen, Nachsinnen und Beobachten (was mir heute in Bayern etwas fehlt [die Bemerkung bezieht sich auf die Zeit meiner Berufstätigkeit bis 2018]). Einige meiner Jugend­gedichte entstanden durch idealisierte Walderlebnisse im Taunus. "Mein Herz war wie das Rehkitz dort. | Es lauscht und wartet hier. | Und wenn du kommst, | dann folgt es dir" (1. August 1973, Wiesbaden-Kohlheck, ein Reim).

Geheimnisse ziehen mich überhaupt in ihren Bann!

Dazu gehört der geheimnisvolle Anfang, Sinn und schließlich das Ende allen Seins, und logischerweise – Gott! Das heißt – der Schöpfer, der Urheber, der Uhrmacher dieses unvorstellbar gigantischen genialen Weltall-Räderwerks, das kein Mensch wirklich richtig begreift. Das Schweigen Gottes irritiert mich. Aber über das eifrige Bibellesen gelangte ich damals zum "Wort" Gottes, das heißt ich "hörte" ihn (auch zu mir) reden; und ich WOLLTE an ihn glauben, so einfach kann Glaube sein.* (Einige Geheimnisse bleiben ein Leben lang unergründlich und werden nie gelüftet.)

* Ich bin bis heute nicht formell-religiös, dafür gläubig, und ich schätze weit mehr geistige als materielle Werte als "Idealist". Mit ein Grund für die radikale Zäsur in meinem frühen Leben, zu der ich mich als junger Mensch bald entschließen sollte, unter anderem deswegen, um nicht in die Tretmühle eines geldorientierten Materialismus zu geraten, der eine Verlockung war, wie ich das um mich herum beobachten konnte, vor allem in West-Berlin, dem "Schaufenster des Westens" – und so entwickelte sich meine Entscheidung nach der Schulzeit für eine unentgeltliche, gottes­dienstliche Tätigkeit, die ich als "Idealist" dann jahr­zehntelang ausüben sollte und die ich erst 2008 freiwillig aufgab und so ein anderes, zweites Leben begann.

In die Reihe der Geheimnisse gehört, wie erwähnt, für mich als Mann und Gegenpart, das schöne Geschlecht, eigentlich die Weiblichkeit per se, das "Mysterium Frau", und das bleibt (für mich, noch lange Zeit als junger Mensch) ein großes Geheimnis. Im Februar 1971 reime ich in meiner damaligen Heimat­stadt als Junge: "Berlin ist eine tolle Stadt / die viele schöne Mädchen hat / Dunkle und Blonde / durch die Straßen geh'n / die oft alleine / in der U-Bahn steh'n. / Blaue Pupille / und warme Blicke / süße Idylle / doch kein wahres Glück. / Erleichtert steh ich / mittendrin. Nur gut / dass ich so schüchtern bin" (Gedicht).

Wie von der Natur, so habe ich (damals) vielleicht ein durchweg idealisiertes Bild vom anderen Geschlecht, was sich erst durch mehr Lebens­erfahrung verändern wird. (Manche Geheimnisse bleiben ein Leben lang unergründlich, andere werden gelüftet.)

Durch den biblischen Glauben entdeckte ich damals für mich ein außergewöhnliches "Lebens(abschnitt)ziel", wobei eine "keusche", das heißt eine sittlich und moralisch reine Lebensweise im Sinne der Bibel die Bedingung für dessen Realisierung gewesen war. Auch wenn ich zugegebenermaßen als poetischer, also tiefe Emotionen empfindender Mensch ein Mädchen gern real geküsst oder entdeckt hätte, zudem das normale menschliche Grundbedürfnis "Zärtlichkeit" und "Berührung" habe (was keineswegs grenzwertig ist, auch wenn dieses Grund­bedürfnis einigen Menschen irgendwie abhanden gekommen ist, nicht einmal in der Familie Nähe erfahren durften, manche Menschen sich selbst bei Begrüßung oder Verab­schiedung ungern umarmen lassen, weil das angeblich nicht "üblich" bei ihnen wäre, sei es im familiären, sozialen oder religiösen Umfeld).

Bereits junge Zeugen Jehovas lernen beim Bibelstudium, dass Frau und Mann vor Gott als Menschen grundsätzlich gleich sind, zum Beispiel in der Schöpfungs­geschichte, "männlich und weiblich erschuf er sie" (1. Mose 1,27, NWÜ) – jeweils anders und doch gleichwertig. (Etwas anders sieht es in der religiösen Gemeinschaft beim Lehramt in der Gemeinde aus oder laut biblischer Lehre in der Ehegemeinschaft, die eine Ehepartnerschaft sein soll, wobei es nicht zwei "Kapitäne" vor Gott geben kann; die Ehefrau könnte aber durchaus "Steuermann" werden ...)

Männliche Angehörige müssen dem anderen Geschlecht, Mädchen und Frauen, mit Anstand und Respekt begegnen und dürfen sie nicht als Sex-Objekt betrachten, also ihre menschliche und weibliche Würde achten. Dieser edle Standpunkt war für mich daher selbstverständlich. In der Religions­gemeinschaft werden sittliche Werte und Moral, "biblische Gru­sätze" genannt, konsequent vertreten.

Natürlich sprach grundsätzlich für mich jungen Menschen damals überhaupt nichts dagegen, innerhalb der Religionsgemeinschaft zu heiraten, wie das um mich herum auch praktiziert wurde. Doch eine Bindung in einer Ehe hätte die Realisierung meines selbst gesteckten, außergewöhnlichen relativen "Lebens(abschnitt)ziels" (was so ganz anders als herkömmlich war, siehe nächste Unterüberschrift), das ich zu diesem Zeitpunkt nur als Single erreichen konnte, vereitelt oder ich hätte es aus den Augen verloren.*

* Dieser Tage hörte ich Eckart Axel von Hirschhausen in einem Radio­interview auf die Frage, was den Unterschied zwischen Verliebtheit und wahrer Liebe mache, trefflich antworten: "Verliebte schauen sich in die Augen, Liebende in dieselbe Richtung" (2021).

Mein gefasstes Ziel durch die Lüftung dieses "Geheimnisses" aus den Augen zu verlieren, das wollte ich nicht riskieren, und daher verzichtete ich freiwillig auf eine frühe Bindung mit einer Person des anderen Geschlechts, allerdings gleichzeitig auf Erfahrungen und Bedürfnisse auf dem interessanten Gebiet – das andere Geschlecht blieb ein "Geheimnis"! (Vorweg bemerkt: Verzicht bedeutet Opfer, und mein persönliches Opfer in dieser Dimension war von Anfang an für mich tragbar, weil das selbst gesteckte "Lebens(abschnitt)ziel" ein relatives war, zeitlich durchaus überschaubar, nicht für die Ewigkeit bestimmt, und ich als freier Mensch selbst entscheiden konnte, wann ich einen neuen Lebensabschnitt in welchem Rahmen und mit welchen neuen Zielen antreten wollte. So empfand ich zumindest, und ich ahnte nicht, dass darüber rund vierzig Jahre vergehen sollten!)


RÜCKBLiCKE, 1970 – 1972

So entsteht wie beschrieben ein "Idealist" wie ich, der laut Google-Definition eine Person ist, "die selbstlos, dabei aber auch die Wirklichkeit etwas außer Acht lassend, nach der Verwirklichung bestimmter Ideale strebt" (Definitionen von Oxfort Languages).

Kein alltäglicher Lebensentwurf eines "Idealisten"

Ich verlasse 1970 auf eigenen Wunsch die Schmidt-Ott-Oberschule in Berlin-Steglitz, obwohl ich Schule und Bildung liebe, trotz eines hervorragenden Schulzeugnisses, und trotz meines noch ungestillten, unbändigen Wissensdurstes. (Der sollte später "learning on the job" befriedigt werden, vor allem als ich in den 80er Jahren für eine große Bibliothek zuständig wurde und anfing, für meine Artikel und Beiträge zu diversen Sachgebieten zu recherchieren und zu schreiben.)

Mein Entschluß diente hauptsächlich dem Ziel, mein (spirituelles, religiöses) "Ideal" zu verwirklichen, eine halb- und dann hauptamtliche Laufbahn innerhalb der Religionsgemeinschaft antreten zu können; das hatte für mich als jungen Menschen höchste Priorität erlangt. Dafür trat ich keine herkömmliche Laufbahn an, wie sie andere junge Menschen gewöhnlich durch Schule und Ausbildung (oder Studium) einschlagen. (Und wie ich sie selbstverständlich auch von mir erwartete, ja forderte – hätte da nicht der "Idealist" in mir die Oberhand gewonnen und die Naherwartung einer neuen Welt, worauf ich unten eingehe.)

Also folgte in meinem Leben quasi eine erste Zäsur, Verzicht und Aufgabe, mit dem Ziel, dafür im biblischen Sinne der Verkündigung etwas weit Wertvolleres, ein spirituell sinnvolles, erfülltes, das "wirkliche" Leben, zu ergreifen. (Und dieses Ziel sollte ich erreichen, 36 Jahre ausleben, und darauf bis heute mit Befriedigung zurückblicken. Das schon mal vorweg erwähnt ... Allerdings nach einem Neuanfang, einer "zweiten" Zäsur sozusagen, worauf ich noch eingehe.)

Diese frühe Lebenszäsur war und blieb meine persönliche Entscheidung, und sie war keineswegs typisch für Angehörige der Glaubensgemeinschaft insgesamt, eher die Ausnahme. Das ist mir wichtig zu erwähnen, und daher gehe ich unten weiter auf das Thema "erste Lebenszäsur" ein.

Ich war jetzt gleichzeitig frei, in die "weite Welt" zu gehen, was meiner steten Reiselust entsprach, und mich zog es als erstes zur Bergwelt der Alpen, gleichsam ein optischer Vorgeschmack auf das (einst verlorene und nunmehr) verheißene irdische Paradies des ersten und letzten Buches der Bibel, wie es in den schönen Bildern der Wachtturm-Literatur vielfach illustriert wird. Es folgten zwei mehrmonatige Aufenthalte im Ausland jeweils als bereits in West-Berlin ernannter "Allge­meiner Pionier" oder halbamtlicher Vollzeit­verkündiger der Zeugen Jehovas (der seinen Lebensunterhalt selbst bestritt), jeweils mit einer Privatunterkunft bei Einheimischen:

Zuerst in St. Johann in Tirol am grandiosen Gebirgsstock Wilder Kaiser in Österreich (1970).*

Foto

* Am 11. April 1970 schrieb ich auf einer Ansichtskarte vom "Römerhof" nach Berlin: "Ich bin hier in St. Jo­hann gut angekommen. Da ich meinen Zug nicht erreicht habe, nahm ich einen anderen, der sogar direkt von München nach St. Johann fuhr. Ich habe hier ein eigenes Zimmer und bin also gut einquartiert. [...] Der Schnee liegt teilweise kniehoch bis brusthoch. Unvorstellbar! Obwohl ich erst einige Stunden hier bin, habe ich mich gut mit den Kindern angefreundet. Nur müde bin ich etwas. Genau wie auf dem Bild sieht alles hier aus – nur in weiß. Haben herrlichen Sonnen­schein!"

Die ersten rund drei Wochen war ich im abgelegenen "Römerhof" bei Familie Aigner einquartiert, eine kleine Pension am Fuß des malerischen Gebirgs­zuges Wilder Kaisers, umgeben von dichtem Wald (Foto, Ansichts­karte). Hinauf und hinunter führte nur eine schmale Sack­gassenstraße. Der "König­reichssaal" der Ortsgemeinde oder Versammlung der Zeugen Jehovas St. Johann in Tirol lag unten im Tal am Ortsende, wo der pensionierte Schreiner­meister Schwaiger, seine Frau Rosa mit Pflege­sohn Gerhard wohnten. Sie hatte auf ihrem Grund­stück den Bau des Saales ermöglicht, und hier fanden die Zusammen­künfte statt, so am Sonntag der "Öffentliche Vortrag" und das "Wachtturm-Studium", Freitag­abend die "Predigt­dienst­schule" und "Dienst­zusam­menkunft".

Familie Aigner nahm mich mit ihrem Auto jeweils zu den Zusam­menkünften im Tal mit. Am Freitag, den 1. Mai setzten heftige Schnee­fälle ein, alles rund um den Römer­hof war völlig einge­schneit und Vater Aigner sagte, wir fahren heute nicht in den König­reichssaal. Allerdings sollte ich an diesem Abend im Saal eine Bibel­lesung vortragen, und daher erwiderte ich, dass ich für meine Person auf jeden Fall ins Tal gehen würde – zu Fuß.

Bereits am Nach­mittag startete ich meinen Fuß­marsch, die Sonne zeigte sich inzwischen, ein wunder­voller Gang durch die verschneite Welt hinunter in den Ort, wo man erstaunt und beein­druckt war, dass ich mich auf den Weg gemacht hatte, um meine fünfminütige Lese­aufgabe zu halten.

Rosa Schwaiger bot mir ein Nacht­lager im Zimmer von Gerhard an und überhaupt den Wechsel meiner Unterkunft vom abgelegenen Römerhof in ihre Familie in St. Johann/Tirol, was ich gerne annahm. So gab ich ihr 100 DM Kost­geld im Monat und blieb für rund drei Monate bei ihnen, was mein Zuhause wurde. Von hier aus konnte ich nun noch besser den Ort St. Johann selbst sowie die Dörfer und Höfe mit dem Fahrrad für die Evange­lisation erreichen, wobei ich die Traktate, Broschüren, Zeitschriften und Bücher der Wachtturm-Gesellschaft unter der Bevölkerung verbreitete.

Im folgenden Jahr bot sich mir dann im Sommer die Möglichkeit, im weiten Pustatal, im Gebiet der Orts­gemeinde von Jehovas Zeugen in Bruneck in Südtirol, Italien, bei Familie Rainer in San Martin, St. Lorenzen vom 1. August bis zum 12. September 1971 zu wohnen und von dort aus zu evangelisieren. Von hier aus klapperte ich die Dörfer und Höfe mit dem Fahrrad ab.

An den Berghängen hinauf zu den Berg­bauern zu gelangen und mit ihnen zu sprechen war ein Erlebnis. Dabei traf ich gläubige aufge­weckte Menschen, die sich dem Einfluß der Geistlichen im Tal­grund entzogen wußten, zuhörten und Fragen stellten. Zurück ließ ich viel Wachtturm-Literatur. Und die Berg­welt fasziniert mich ja wie das Meer gleichermaßen – bis heute (was ich oben erwähne).*

* Von Bruneck aus erfolgte 1971 per Linienbus via Umstieg in Cortina d'Ampezzo mein erster Kurz­besuch der Lagunenstadt Venedig, der "unfassbaren" Stadt, die für mich bis heute zu den groß­artigen Reise­zielen überhaupt zählt, wo man das Reise­erlebnis blaues Meer, Mittel­meerfeeling und historische Kulturstadt wundervoll verknüpfen kann. Mit dem Wasser­bus "Vaporetto" über Venedigs Kanäle gondeln ... (darüber an anderer Stelle mehr).

Nach Ankunft auf dem Bus­bahnhof und Platz "Piazzale Roma" ging ich sofort ins Tourismus­büro. Dort war man sehr hilfreich, mir eine billige Unterkunft in der Nähe zu besorgen – in einer winzigen, sauberen Dach­kammer des Hotels Olimpia mit Blick über einen Hof auf die roten Dächer der Lagunenstadt vom rück­wärtigen Kammer­fenster aus, so dass ich mir Flügel gewünscht hätte, um sie aus der Luft zu erkunden.

Markusplatz

Mein (erstes) "Stadtschlendern" durch Venedig konnte jedenfalls beginnen – zu Fuß ... in Richtung Markus­platz und mit meiner ersten Pizza am nächsten Tag, die mir überhaupt nicht schmeckte. In meiner Ahnungs­losigkeit und Spar­samkeit – die Pizzas schienen mir auf dem Markusplatz (schon damals [Foto, 2018]) überhaupt etwas teuer zu sein – hatte ich eine Art bestellt, wie sich herausstellte, die mit nichts anderem als mit einem Spiegelei belegt war, also nicht einmal eine Pizza Margherita bekommen, und so war ich mit Pizzas erstmal für geraume Zeit bedient ...

(Schon damals war ich ein spar­samer, genügsamer Typ, zufrieden mit dem, was man hat, vielleicht eine Art Minimalist. Meine Kurz­reisen waren Low-Budget-Reisen wie heute, denn über ein Vermögen verfüg(t)e ich nicht, wollte ich auch nicht, und ich kam mit dem, was ich materiell besaß, gut zurecht. Ich hatte als Teenager auf dem Hof der Berg­bauern in der Steiermark Ein­fachkeit erlebt und gern angenommen, in Schweden bei Familien der Mittel­schicht gelebt, und ich wusste gleichzeitig, was es für eine Familie bedeuten kann, finanziell aus dem Vollen schöpfen zu können als ich bei einer sehr begüterten Gast­familie in Barcelona in einer schönen Villa mit herrlichem Park und Swimming­pool gewohnt hatte, wo sich Gärtner, Köchin und Haus­mädchen um vieles kümmerten. Diese unter­schied­lichen Lebens­weisen kann ich daher als soziale Standards gut nach­empfinden, akzeptieren und mich selbst dabei wohlfühlen.)

Auch in der übrigen Zeit der Jahre 1970/1971, die ich in meiner Heimatstadt West-Berlin verbringe und bei den Eltern wohne (mit einer Teilzeitbeschäftigung), arbeite ich als halbamtlicher "Vollzeitdiener" oder "Allgemeiner Pionier" (Vollzeit­verkündiger), der wie erwähnt für seine Unkosten selbst aufkommt. Das waren meine ersten Schritte auf einer unge­wöhnlichen, gottes­dienstlichen Laufbahn mit dem begehrten Ziel, haupt­amtlich in der Deutschland­zentrale der religiösen Wachtturm-Gesellschaft e.V. in Wiesbaden als "Sondervollzeitdiener" arbeiten zu dürfen! (Die Wachtturm-Gesellschaft als eingetragener religiöser Verein ist sehr lange die rechtliche religiöse Körperschaft der Religionsgemeinschaft in Deutschland; erst später, nach der staatlichen Anerkennung, kann die Bezeichnung "Jehovas Zeugen in Deutschland, K.d.ö.R." in den Vordergrund treten. Entsprechend ändern sich im Laufe der Zeit die Briefköpfe der Gemeinschaft.)

Mein persönlicher Lebensentwurf unterschied sich jetzt von herkömmlichen, allgemein vertrauten traditionellen Mustern – wie Geld verdienen, eine Familie gründen (möglichst mit Kindern), Vermögen schaffen, in Rente gehen, ein Testament machen und sein Begräbnis überdenken. Auf solche Erfahrungen wollte ich (zunächst) verzichten bzw. sie wären durch das bevorstehende Eintreffen der in der Bibel verheißenen "neuen Welt" (Wiederkunft und Millennium Christi, "Königreich Gottes" oder "Reich Gottes", das auf der Erde den Willen Gottes geschehen lässt), wie ich das als Kind gelernt hatte, ohnehin obsolet geworden.*

* Gemäß der Bibel (Neues Testament) hatte der auferstandene Christus gesagt: "Ich komme eilends [bald]" (Offenbarung 22,12). Und das vor über 2000 Jahren, perspektivisch gesehen eigentlich eine relativ kurze Zeit im Universum – richtig, es kommt auf die Sichtweise an. Das hatte ich damals noch nicht ganz verstanden. Für mich und sicher Millionen anderer Gläubiger war damals die Realisierung der "neuen Welt" durch das "Königreich Gottes", die Herrschaft Christi auf Erden, buchstäblich zum Greifen nahe! (Eigentlich wie das seit 2000 Jahren für alle Christen der Fall sein sollte, auch heute, also eine stete Naherwartung oder christliche Wachsamkeit im Gegensatz zu geistiger Schläfrigkeit und Unentschlossenheit.)

Und viel später lerne ich einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt kennen, den Charles T. Russell (1852–1916), Haupt­gründer und Präsident der Watch Tower Bible and Tract Society Society (kurz: Wachtturm-Gesellschaft, die religiöse und eine nichtkommerzielle Verlags­gesellschaft der Religions­gemeinschaft) einst geäußert hatte: "Wir leben als wenn das Ende schon morgen kommt, und wir planen als wenn das Ende erst in 100 Jahren kommt." (Ich kannte am Anfang nur den ersten Teil dieser Aussage und lebte und plante kurzfristig und nicht materialistisch. Durch meine spirituelle Denk- und Lebensweise sollte ich im Laufe der folgenden Lebensjahre aber keinen Schaden, sondern sehr viele glückliche Momente und bis heute innere Zufriedenheit haben.)

Farben-Baer und Psychologie

Neben den Farben Blau und Gelb (siehe oben) liebe ich es überhaupt bunt – meine Teilzeitarbeit in West-Berlin war bei "Farben-Baer" in Zehlendorf (Farben, Tapeten, Bodenbeläge). Zusammen mit meinem Chef Joachim Baer, der den Flug nach Hamburg spendierte, folgten wir im Februar 1972 der Einladung des Farbenherstellers Glasurit in Hamburg-Hiltrup und besuchten gemeinsam ein Fach- und Einzelhandelsseminar mit Verkaufsberatung. (Meine Teilnahme-Urkunde vom 22. Februar 1972 wird auf "Herr Joh. S. Wrobel" ausgestellt, so wie ich meinen Namen angegeben hatte. Schon damals legte ich auf meine beiden Vornamen Wert.)

Als Referent diente damals der Unternehmensberater, Verkaufspsychologe und Duden-Autor Siegfried A. Huth aus Dillenburg. Er vermittelte einprägsame Erfolgs- und Lebensregeln. Sich wiederfinden zwischen Idealismus (sein Denken und Handeln maßgeblich an Idealen ausrichten) und Utilitarismus (dem Nützlichkeitsprinzip, auch bei idealen Werten, folgen), lehrte er. (Ob er da an mich gedacht hatte, weil mein Chef ihn vielleicht über meinen geplanten ungewöhnlichen und idealistischen Lebensweg informiert hatte? Erst jetzt, nach so vielen Jahren, kommt mir dieser spekulative Gedanke.) Einige der Sprüche von Siegfried A. Huth begleiten mich jedenfalls bis heute, zum Beispiel:

Hartnäckig sein, jedoch nicht stur. Mit jeder Situation durch körperliches und seelisches Stehvermögen fertig werden; unter erschwerten Bedingungen Aufgaben erfüllen. (Nur so sollte ich später meine Lebensaufgabe meistern. Leider wurde meine "Hartnäckigkeit" von Zeitgenossen auch manchmal missverstanden ...)

Unsere Zeit müsse heute aus (1) Arbeitszeit, (2) Informations- und Weiterbildungszeit und (3) Freizeit bestehen. (Information, Weiterbildung und Selbstanalyse erhalten von nun an einen wichtigen Platz in meinem Leben.)

Vom Ahnen zum Planen. Erfolg werde durch Organisation (zukunftsgerichtet) und Ordnung (gegenwartsgerichtet) gesteigert, durch Argumentation (Verstand), Demonstration (Sinne) und Suggestion (Gefühle) sowie durch Vorbereitung (Nutzen [Jeder fragt sich, "Was habe ich denn davon?"], Vor- und Nachteile durchdenken) und Proben/Üben (auf "Zu teuer!" antworten, "Im Vergleich womit?"). Durch unsere Stimme zeigen wir, wer wir sind und wie wir behandelt werden wollen. (Also ständig an sich arbeiten.)

Eine positive Ausstrahlung wird positiv reflektiert! Analysiere deine Umwelt (beruflicher, familiärer, öffentlicher Bereich), wobei Siegfried A. Huth drei Arten von Menschen aufzählt:

A-Menschen: Nette, vernünftige, aufgeschlossene Menschen.
B-Menschen: Menschen mit charakterlichen Webfehlern.
C-Menschen: Menschen, die wir nicht ausstehen können.
(Ich sollte im Laufe der Zeit feststellen, dass es überall solche und solche Menschen gibt. Ich nahm mir vor, ein A-Mensch zu sein, also eine verträgliche Person, war aber doch irgendwie ein B-Mensch. Und auf manche wirke ich vielleicht wie ein C-Mensch. Aber wem wird es nicht ähnlich nach diesem ABC ergehen?)

Anders als andere! (AAA). Zur Erfolgsanalyse, so "Dr. Huth", gehöre des weiteren Raum und Aufmachung. Der Kunde decke den Bedarf durch Vergleichen, also: "AAA". Oder "LLL" (Licht lockt Leute). Es gehe um hauchdünne Wettbewerbs­vorteile. Großzügigkeit und Freundlichkeit seien unsere größte und beste Werbung, man nenne das "Echtes Image" (im Gegensatz zum "künstlichen Image", zB durch Inserate).

Mit diesem (theoretischen) Rüstzeug entlässt Siegfried A. Huth mich quasi wohlgemut und in die weite Welt!

"Hänschen klein | ging allein | in die weite Welt hinein ..." Wegen diesem Kinderlied mochte ich nicht "Hans", schon gar nicht "Hänschen" gerufen werden, weder zu Hause noch in der Grundschule, was man respektierte. (So wurde ich damals "Johnny". Heute bin ich Stephan. Zu meinem beiden Vornamen "Stephan" und "Johannes", siehe oben).

Vielleicht spiegelte das Lied meine "Fernsucht" (Fernweh) und ein (verborgenes?) "Lebensziel" wieder, in die Welt zu ziehen und sein Glück zu versuchen – warum mochte ich das Lied eigentlich nicht? Sollte ich einmal wie das "Hänschen" wieder zur Mutter zurückkehren? (Das wollte ich auf keinen Fall, wenn ich mich recht erinnere. Eigentlich schade, denn als Erwachsener mit Lebenserfahrung und wenn die Mutter nicht mehr lebt, dann sieht man manches anders.)

Lebenszäsur

Die Schule zu verlassen und "Pionier" oder Vollzeit­verkündiger der Zeugen Jehovas zu sein (und darauf zu verzichten, allgemein übliche Bildungs­wege in der "Welt" zu verfolgen, und den Lebens­unterhalt nur durch eine Teilzeit­beschäftigung zu verdienen) war für mich eine freiwillige, folgenreiche Zäsur im Leben, die wie erwähnt von herkömmlichen Lebens­entwürfen der Menschen um mich herum abwich. Dabei war mein Ziel (sobald ich das erforderliche Alter erreicht hatte), schnellst­möglich in die gottes­dienstliche Dienste der Deutschland­zentrale in Wiesbaden (Druckerei/Buchbinderei und Verwaltung, die später nach Selters/Taunus verlegt wurde) treten zu dürfen, "Bethel" genannt (rechtlich zunächst eine "ordens­ähnliche" gottes­dienstliche Einrichtung, dann ein Orden). Und das geschah mit einer Endzeit­naherwartung, wie ich sie als junger Mensch auf Grund meines Bibel­studiums verstanden hatte.

Gern betone ich: Ich traf damals eine eigen­verantwortliche Ent­scheidung, zu der ich stehe. Mein Klassen­lehrer hatte einmal zu mir gesagt, "Man kann nicht zwei Herren dienen!" (Ich hatte mich zu einem Muster­schüler gemausert mit einem Noten­durchschnitt von 2,1, doch schien ihm, daß meine Religion stets Vorrang vor schu­lischen oder säku­laren Zielen hatte.) Demzufolge entschied ich mich nur für einen einzigen Herrn, statt gleich­zeitig zwei Lebenslinien zu verfolgen, wie das unter Zeugen Jehovas allgemein üblich ist – nämlich einen weltlichen Beruf auszuüben und sich selbst und ggf. für eine Familie zu sorgen sowie gleichzeitig für seine religiöse Überzeugung vor Ort zu leben. Das wäre natürlich auch für mich eine Option gewesen, doch ich entschied mich damals anders – ich wollte im "Bethel" dienen.

Reisefieber

Vor Eintritt ins "Bethel" (ich hatte das erforderliche Alter für eine Bewerbung noch nicht erreicht) ging ich zunächst auf eine private Entdeckungsreise auf "Jugendherbergsweise" durch Israel im Sommer 1972 (mit einem Ticket für alle lokalen Linienbusse und Eintritts-Gutscheinen der Ausgrabungsstäten im Land). Meine Reise, die ich sorgfältig geplant hatte, sollte mich bis in den Norden zu den Quellen des Jordan und dann in den Süden bis zum Roten Meer, also durch die Würste Negev (mit Übernachtung in der "verlassenen" Jugendherberge in der Stadt Beersheba, dem Ort, wo einst Abrahams Brunnen war) führen.

Caesarea Dabei inspizierte oder besuchte ich verschiedene biblische Schau­plätze in Israel gleich nach An­kunft in Tel Aviv. Zuerst als Zwischenstopp die Ausgrabungstätte des rö­mischen Cäsarea (Römerstein Pontius Pilatus; s. Ansichtskarte, ein mit­gebrachtes "Souvenir", das ich noch heute besitze), wohin mich die Linien­busfahrt nach Norden mit Ziel Haifa entlang der Küste des wundervoll blauen Mittelmeeres führte (die Farbe des Meeres zieht mich un­glaublich an). Weiterer Zwischen­stopp an der Ausgra­bungsstätte Megiddo, nicht weit von Haifa entfernt.*

* Megiddo liegt in der Nähe einer Ebene, wo einst bedeutsame Ent­scheidungs­schlachten geschlagen wurden, wovon der Begriff "(H)Armageddon" (Berg von Megiddo) im letzten Buch der Bibel als Metapher abgeleitet ist (Offenbarung 16,16) – ein wörtliches Symbol für den end­gültigen Ver­nichtungskrieg des allmächtigen Gottes gegen alles Böse auf der Erde, ein Endpunkt der Geschichte sozusagen, das Ende einer alten Welt und der menschlichen Herrschaft, gleich­zeitig der Beginn einer neuen, gerechten Welt, der Regierung Gottes ("Reich Gottes"), die durch die Herrschaft Christi in der Zukunft ausgeübt werden wird (und der Errichtung des welt­weiten irdischen Paradieses, was ursprünglich der Arbeits­auftrag der ersten Menschen im Garten Eden gewesen und durch Rebellion vereitelt worden war; vgl. die ersten Seiten der Bibel). So hatte ich das durch mein Bibel­studium bereits als Kind gelernt, und das war ein Teil meiner End­zeit­erwartung, die mich ziemlich stark motivierte!

In Haifa lernte ich den Schweizer Martin B. aus Genf kennen, und wir verabredeten uns, bald ein Stück Weges gemeinsam zu reisen. Wir trafen uns später an der biblischen Negev-Oase En Gedi am Westufer des Toten Meeres, besuchten Masada (das letzte jüdische todesmutige, aber vergebliche Bollwerk der Widerständler gegen das römische Militär in Palästina) und Elath am Roten Meer mit Blick auf ägyptisches Gebiet, die Sinai-Halbinsel, wo Moses auf dem Berg Sinai einst die Zehn Gebote vom "HERRgott", eigentlich JEHOVA Gott (JAHWE, JHWH elohim), in Empfang genommen hatte. Mit Martin blieb ich viele Jahre lang ver­bunden; er schickte mir regelmäßig An­sichts­karten aus der ganzen Welt (von denen ich leider nur noch wenige besitze), während er für das kurz zuvor (1971) in der Schweiz gegründete "World Economic Forum" reiste, unter dessen Dach sich bekanntlich die Führer dieser Welt bis heute regelmäßig treffen.*

Martin meets Gorbatschow, 1993 * Das Foto zeigt Michail Serge­jewitsch Gorbatschow, den ehemaligen General­sekretär des Zentral­komitees der Kommu­nistischen Partei und Präsidenten der Sow­jetunion, bei der Begrüßung 1993 (Foto vermutlich in Moskau, sonst in Genf aufge­nommen) mit Martin (links), der seinerzeit noch immer beim "World Economic Forum" tätig war und, soweit ich mich erinnern kann, für Termin­planungen zuständig war.

Besonders berührte mich der Besuch des Sees Genezareths, der mir bereits als junger eifriger Bibel­leser aus den vier Evangelien des Neuen Testaments gut vertraut war. (Siehe dazu den Blogspot mit meinen Gedicht "Alles schwarz auf Golan" und Hinter­grund­informationen zu der Israel-Reise. Oder die reine Abbildung des Textes rechts, Foto zum Vergrößern klicken/tippen, ohne den dazu gehörigen Kommentar.)

Kurz vor Ende der Reise dann als Höhe­punkt ein mehrtägiger Aufenthalt in Jerusalem mit Besuch der Altstadt, Klagemauer, des Ölbergs und anderer Ört­lichkeiten der Stadt sowie eines Museums. Doch die Besichtigung des berühmten Hiskia-Tunnels gelang mir auf dieser Reise nicht, was ich später nach­holen konnte (Foto).*

Foto * Das Foto zeigt den Verfasser hier beim Durchwaten des jahr­tausendealten und in der Bibel er­wähnten his­torischen Hiskia-Tunnels in Jeru­salem, ein etwas aben­teuerliches Unter­fangen mit einem Araber­jungen, der sich angeboten hatte, mich durch den Tunnel für ein biqashish (Trink­geld, بقشيش) zu führen – aller­dings in entgegen­gesetzter Richtung wie üb­licherweise Touristen geführt werden, also kein Einstieg bei der Gihonquelle, sondern am anderen Ende beim Teich von Siloah, so dass uns eine Gruppe in dem engen Tunnel plötzlich ent­gegenkam! Das war bei einem anderen Besuch in Israel, 27 Jahre später, verknüpft mit einem Besuch im Lernort und der Gedenk­stätte Yad Vashem anläßlich einer Inter­nationalen Holocaust Konferenz, wo ich an einem Workshop beteiligt war (13. Oktober 1999 [die Ver­linkungen werden noch, wie oben erwähnt, nachgeholt, wenn die Manuskripte bereit sind, auf lilawinkel.de - jwhistory (Manuskripte und Ressourcen) online gestellt zu werden, was bislang noch nicht zeitlich vollständig gelungen, jedoch seit kurzem langsam angelaufen ist]).

RÜCKBLiCKE, 1972 – 1977

Mit dem Erhalt des Briefes der Wachtturm-Gesellschaft vom 27. September 1972 (Foto) geht mein Herzenswunsch in Erfüllung – die Einladung, ins "Bethel" nach Wiesbaden zu kommen!

Wiesbaden, eine der charmanten Städte am Rhein, wird ab Oktober 1972 meine zweite Heimat. Wieder lebe ich nicht weit von einem berühmten Fluss – Wasser scheint mein Element zu sein!

"Bethel"-Mitarbeiter

Am 14. Oktober 1972 nehme ich meine hauptamtliche, gottesdienstliche, unentgeltliche (uneigennützige, altruistische) Tätigkeit als "Bethelmitarbeiter" im Zweigbüro der Watchtower Society / Wachtturm-Gesellschaft auf und habe vorläufig eine neue Adresse (bis zum Umzug der Gesellschaft nach Selters/Taunus): Wiesbaden-Dotzheim, Greifstraße/Am Kohlheck. 1972 Betheleinladung Die Mitarbeiter sind Sonder­vollzeit­diener, die freiwillig ein gottes­dienstliches Werk in der Druckerei und Buch­binderei, Verwaltung oder in anderen Bereichen verrichten. Innerhalb der damaligen Deutschland­zentrale der Religionsgemeinschaft, gleichzeitig ein Zweigbüro der Wachttower Society (Germany branch), bildeten sie zunächst eine ordens­ähnliche Gemeinschaft für Sonder­vollzeit­diener. Später und bis heute [Stand November 2008] werden sie als ein religiöser Orden von staatlicher Seite anerkannt: "Orden der Sonder­vollzeit­diener der Zeugen Jehovas – Deutschland". (Inzwischen hat die Religions­gemeinschaft Jehovas Zeugen in Deutschland formal den Status einer Körper­schaft des öffent­lichen Rechts in allen Bundes­ländern erlangt. Die rechtliche Körper­schaft "Jehovas Zeugen" ersetzt nunmehr, nicht nur als Brief­kopf, die Be­zeichnung "Wacht­turm-Gesellschaft" (hier verkürzt), die ein rechtlich einge­tragener reli­giöser Verein ist, vordem die recht­liche Vertretung der Glaubens­gemeinschaft.)

Zunächst sorgte ich für klare Sicht im Haus (als Fenster­putzer), das ich dadurch gut kennen­lerne. Ab Dezember 1972 Arbeiten in der Groß­buchbin­derei (18 Monate an der Faden­heft­maschine [Foto links] und sechs Monate am Buch­decken­automat [Foto rechts]), dann in der Expedition (1975, Versand und Literatur­lager) und schließlich in der Hand­buch­binderei (März bis Dezember 1976).

Foto Ich erlerne als Hand­buchbinder das Restaurieren und manuelle Ein­binden von Büchern, zum Beispiel aus der Haus­bibliothek, durch Buchbindermeister Harald Köhler. Danach erneut Arbeit an der Faden­heftmaschine (an die mich der neue "Dispatch" Peter Mitrega, der Nach­folger von Heinrich Schürg, versetzte), während ich für die Handbuch­binderei verant­wortlich bleibe. (Zwischen­zeitlich Einteilung als Nacht­wächter und befristete, saison­bedingte Büro­arbeit mit Handzettel-Bestellungen für die allgemeinen Zusam­menkünfte in den Königreichs­sälen der Zeugen Jehovas, für Sonder­vorträge und das jährliche "Gedächtnis­mahl" oder Abend­mahl des Herrn zusammen oder unter Aufsicht von Klaus Peinecke vom "Bethelbüro".)

Meine spezielle Büchersammlung, darunter ur­sprachliche biblische Hand­wörterbücher, hatte ich ins "Bethel" Wiesbaden mitgenommen. Eines Tages klopfte es an meiner Zimmertür, ein Mit­arbeiter trat ein. Er habe erfahren (vermutlich durch eine der "Haushaltsschwestern", die unsere Zimmer putzten), dass ich verschiedene alt­hebräische Wörter­bücher besitze, und er würde sie gern haben wollen, da er (offenbar während seiner Arbeitszeit im Korrektorat, sicherlich auch in seiner Freizeit) Alt­hebräisch lerne. In meiner Gut­mütigkeit stimmte ich zu, er könne sich zumindest ein (seltenes) Exemplar als Geschenk heraus­suchen, was er auch tat und dazu bemerkte: "Du brauchst die Wörter­bücher ohnehin nicht!" Ich er­widerte: "Der Tag wird kommen, wo ich sie (ge)brauchen werde!" Er grinste daraufhin nur. (Einige Jahre später kam "der Tag", siehe unten, als ich für die Beant­wortung "biblischer Fragen" für die Organisation in Deutschland zuständig wurde, und das etliche Jahre als Mitarbeiter der Redaktionsabteilung (intern "Schreibabteilung"). Mit dem Mitarbeiter sollte ich arbeitsmäßig im Rahmen meiner späteren Zeitgeschichts- und Gedenkarbeit 1996 bis 2008 noch zu tun bekommen, was leider ähnlich wie der Erstkontakt nicht immer für mich erfreulich werden sollte.)

Übrigens, nach der Verlagerung meines Wohn­sitzes 1972 von West-Berlin nach Wiesbaden (Hessen) wurde ich wehr­pflichtig, doch dann am 12. Januar 1977 als Kriegs­dienst­verweigerer anerkannt.*

* Die Kriegsdienst­verweigerung der Zeugen Jehovas in der Bundes­republik Deutschland, also nicht nur unter den Diktaturen, hat eine bemerkens­werte Geschichte. Ein Forschungs­thema, dem ich durchaus ebenfalls gern meine Aufmerk­samkeit gewidmet hätte. Die meisten Zeit­zeugen, die in der BRD als Wehrdienst­verweigerer ihre verordnete "Strafe" im Gefängnis abge­sessen hatten (die Haft­bedingungen in der DDR für Zeugen Jehovas sind keines­wegs mit denen in der BRD zu vergleichen), waren ja wohl noch am Leben, aber für dieses Thema reichte dann meine Zeit in Selters/Taunus leider nicht mehr.

Als West-Berliner war ich allerdings zunächst vom Wehrdienst freigestellt und wurde später als "haupt­amtlich tätiger Geistlicher" (Diakon) befreit. An meinem neuen Wohnsitz Wiesbaden bescheinigte mir der dortige "Prüfungs­ausschuß für Kriegsdienst­verweigerer" am 12. Januar 1977 die Berechtigung, "den Kriegs­dienst mit der Waffe zu verweigern". Meine Be­gründung für die Ablehnung des Wehr- und Kriegs­dienstes lautete: "1. Dieser Dienst ist für mich eine untragbare Gewissens­belastung. 2. In strikter Neu­tralität halte ich mich allen 'Angelegen­heiten dieser Welt' fern." Kurz darauf, am 23. März 1977, teilte mir das Bunde­samt für den Zivil­dienst in Köln auf Grund einer Be­scheinigung der Wachtturm-Gesellschaft mit, dass ich "gem. § 10 Abs. 1 Ziff. 3 Zivildienstgesetz [§10 Befreiung vom Zivil­dienst: "... haupt­amtlich tätige Geistliche anderer Bekennt­nisse, deren Amt dem eines ordinierten Geist­lichen evangelischen oder eines Geistlichen römisch-katholischen Bekennt­nisses, der die Diakonats­weihe empfangen hat, entspricht"] vom Zivil­dienst befreit bin und "auch nicht mehr der Zivil­dienst­überwachung gemäß § 23 Zivildienst­gesetz" unterliege.

Während einer Unter­haltung fiel mir erst kürzlich wieder eine kleine Episode ein, die sich während meiner damaligen Wehr­dienst-Musterung im Kreis­wehr­ersatzamt Wiesbaden zugetragen hatte, bei der ich ärztlich untersucht (und als Funker empfohlen werden sollte, viel­leicht wegen meiner Körper­größe) und von Beisitzern wegen meiner Gewissens­entscheidung und Totalver­weigerung befragt wurde. Einer von ihnen rief aus: "Ja, wollen sie denn ihr Vater­land nicht verteidigen!", worauf ein zweiter An­wesende, offenbar resigniert, bemerkte: "Das ist doch garnicht sein Land ..." Noch heute betrachte ich mich als fried­licher und politisch neutraler Europäer und Welt­bürger (und respektiere gleich­zeitig das Recht eines Landes, sich zu verteidigen)!

Wissensdurst und Reiselust

Vom 5. bis 25. September 1973, also bereits nur fast ein Jahr nach Beginn meiner Tätigkeit als "Bethel­mitarbeiter", unternehme ich eine Privat­reise zum inter­nationalen Kongress der Zeugen Jehovas auf Puerto Rico mit einem Besuch der Jung­ferninseln (Virgin Islands, USA). (Für die besondere Kongress-Reise 1973 gewährte mir der damalige deutsche Leiter des Werkes, der Amerikaner und Gilead-Missionar Richard Kelsey, aus­nahmsweise fehlende Urlaubstage im voraus, obwohl mir als neuem Mitarbeiter formal noch nicht die volle Urlaubs­länge zustand! Sicherlich schätzte er meine Begeisterung und dass ein Kongreß-Delegierter aus unserem Land in Über­see anwesend sein würde.)

Das war sozusagen ein Reise-Schnäppchen, ich konnte nicht wider­stehen, und die Gelegenheit, erstmals New York City und die Welt­zentrale der Zeugen Jehovas mit ihrer leitenden Körper­schaft und Watchtower Society (Wachtturm-Gesellschaft), die damals dort noch ansässig war (heute in Warwick, New York), und zusätzlich die Karibik kennen­zulernen! Und das kam so:

Die enorm billige Watchtower-Kongreßreise (die ich mir problemlos leisten konnte) von New York nach Puerto Rico mit Ausflugs­möglichkeiten vor Ort war am Anschlagbrett im "Bethel" zusammen mit anderen Billig­reisen für Mitarbeiter des Hauses als Kongreß­delegierte bekannt gegeben worden, und ich meldete mich einfach für den Kongreß­besuch in Puerto Rico als Delegierter an. Nun musste ich nur noch recht­zeitig die Reise von Deutschland nach New York und zurück schaffen!

Als Ausflüge vor Ort in San Juan, der Hauptstadt von Puerto Rico, neben dem Kongreß­besuch, wählte ich für ein paar Dollar einen Besuch der "Casa Bacardi" (Bacardi Rum Destillery) mit Besuch einer historischen Küsten­festung – der Blick von dort auf das weite blaue Meer unter dem scheinbar unendlichen blauen Himmel war grandios. Außerdem, mit Über­nachtung bei Ein­heimischen, die angebotene billige Flugreise von Puerto Rico zu den Jungfern­inseln (Virgin Islands, USA). Die Inselgruppe war ein reizvolles Ziel, und die Erwartungen auf türkis­blaues Meer­wasser, palmen­gesäumte Strände und den Flair einer stillen kleinen Karibik­insel wurden auch nicht enttäuscht! (Abgesehen von einem heftigen Sonnen­brand an beiden Unter­schenkeln als ich dort am Meer am Sand­strand im Schatten einer Palme lag, in der Hitze des Tags ein­schlief und nicht merkte, wie die heiße Sonne am Himmel wanderte, meine Beine dann nicht mehr im schützenden Schatten lagen und sie etwas "ansengten". Doch das ging auch vorüber, in New York waren die Schwellungen fast nicht mehr zu spüren ...)

Als Andenken an die para­diesischen Palmen­strände der kleineren Karibik­inselgruppe kaufte ich mir damals für wenig Geld eine der dort angebotenen rosa Riesen­muscheln (Lambi, Fechter­schnecke), noch mit unbear­beitetem, zerbrechlich rohem Rand. Folglich trans­portierte ich sie auf dem Rück­weg mit großer Sorgfalt und Vorsicht im Hand­gepäck, zuerst ging es mittels Klein­flugzeug mit Propeller­antrieb* zurück nach Puerto Rico und dann im Jet nach New York und Frankfurt/Main. (Das rosa schim­mernde Gehäuse steht noch heute als Deko­stück auf meinem Schrank, neben den russischen Matrjoschka-Puppen aus dem Kaufhaus GUM am Roten Platz in Moskau, Groß­mutters alter mechanischer Tisch­uhr im Holz­kasten und anderen Erin­nerungs­stücken. Dazu gehört auch ein kleines Porzelankätzchen, das ich als West-Berliner Ferien­kind Anfang der 60er Jahre von meiner schwedischen Gastfamilie in Lund mit­bekommen hatte.)

* Zum Kleinflugzeug fällt mir gerade eine Episode vom Rückflug sein. Neben mir sitzt ein einheimischer Geschäftsmann, wie sich noch herausstellen wird. Ich sitze etwas einge­klemmt mit meinem Hand­gepäck zwischen den Knien, darin die Riesen­muschel, und mit schmerzendem Waden­sonnen­brand an der Fenster­seite neben der rechten Tragfläche, kann den lauten Propeller­antrieb des Klein­flugzeuges sowie das weite blaue karibische Meer beobachten und genieße den nicht all­täglichen Überflug über manch kleine grüne karibische Traum­insel mit Palmen und weißem Sand­strand. So sehe ich auch aus dem Fenster auf meiner Seite, wie aus dem Propeller­kasten der Tragfläche plötzlich Feuerstrahlen schlagen! Wenn wir jetzt abstürzen, denke ich, wie kriege ich meine Muschel heil nach Hause? Ich stoße meinen Sitz­nachbarn an, deute mit der Hand auf die Flammen, und der flucht etwas, glaube ich, ich selbst bleibe gelassen und ruhig dabei, das steckt in mir so drin. Wie die Flammen am Propeller aufkamen, so verschwanden sie auch wieder. Wir landeten sicher und problemlos auf Puerto Rico, und beim Verabschieden reichte mir der Mann neben mir freundlich seine Visitenkarte. Vielleicht ist es ja gang und gäbe, dass Propeller von Klein­flugzeugen ab und zu Feuer spucken? Ich weiß es nicht.

Mit einem ABC-Billigflug, wie die preiswerten Flüge seinerzeit bezeichnet wurden, reiste ich ebenfalls sehr kosten­günstig zuerst nach New York, bevor es wie oben beschrieben nach Puerto Rico zum inter­nationalen Kongreß weiterging. Dort im damaligen Watchtower-Hauptbüro in Brooklyn N.Y., in einem der zahlreichen Gebäude, Columbia Heights 107, durfte ich als Mitarbeiter frei über­nachten, was übrigens auf alle Watchtower-Zweigbüros und "Bethel" weltweit zutraf, einschließlich auch den Kongreßsälen der Zeugen Jehovas in einem Land. So nutzte ich später zum Beispiel den Kongreßsaal in Fort Lauderdale für einen Urlaubs­besuch in Florida, USA. Man durfte also in Bethel­heimen seine Urlaubstage verbringen und auch, wenn man wollte und es zeitlich passte, an den Mahlzeiten im "Bethel"-Speisesaal teilnehmen, was ich in der Regel aber nicht wahrnahm. (Solche freien Reise­unterkünfte als Bethel­mitarbeiter in vielen Ländern waren natürlich etwas ganz Besonderes für mich, zumal es sich auch immer um sehr saubere mit Lokal­kolorit dekorierte, gastfreundliche Einrichtungen mit sehr freundlichen Mitarbeitern handelte. Daran denke ich noch heute gern zurück.)

Begeistert schließe ich mich in der Weltzentrale den "Bethel"-Besichtigungs­touren durch die große Druckerei, Buch­binderei, den Versand und viele andere Abteilungen in mehreren großen Gebäuden in Brooklyn an (Head Office, Publishing, 117 Adams Street). Ein Watchtower-Redaktions­mitglied, Reinhard Lengtat, führte mich freund­licherweise privat nicht nur über die Brooklyn Bridge nach Manhattan den Broadway entlang zum Time Square und Theaterviertel (Jahrzehnte später sollte ich dort das Musical "Les Misérables" besuchen, "Phantom of the Opera" war leider ausverkauft – holte ich dann in London und Berlin nach), sondern auch durch die Redak­tionsabteilung (engl. Writing Department, "Schreib­abteilung" in Deutsch genannt, Redaktion) im Haupt­büro (Head Office, Administration, 124 Columbia Heights) traf ich zum erstenmal Gene Smalley, einen weiteren Mit­arbeiter des Writing Departments im Haupt­büro, das für die welt­weit erschei­nenden Watchtower-Publikationen zuständig ist. (Mit ihm und viel später vor allem mit James N. Pellechia – jetzt greife ich der Geschichte vor – einem anderen haupt­verant­wortlichen redaktionellen Mitarbeiter (einschließlich für Public Relations, Öffent­lichkeitsarbeit) sollte ich viele Jahre anonym, was Memos oder Korres­pondenzen zwischen Zweig­büro und Haupt­büro betraf, und schließlich auch persönlich in beson­derer Weise zusammen­arbeiten. Dazu gehörten im Laufe der Zeit gemein­same Dienst­reisen an mehrere Orte, wie Moskau und St. Petersburg oder wir trafen uns für besondere Lehrprojekte und öffentliche Veran­staltungen in New York, Jersusalem, London, Stockholm. Oder in Deutschland, zum Beispiel für Video­interviews von Zeit­zeugen als Verfol­gungsopfer des NS-Regimes, was ich nicht zum erstenmal organisieren durfte.)

Die Bürotour weckt meine Wertschätzung und Begeisterung für diese Art Schreib­arbeit oder journalistisches Texten! Leider gab es eine solche Abteilung im deutschen "Bethel" in Wiesbaden (noch) nicht. (Der Kontakt zu Reinhard Lengtat kam anlässlich seines Besuches kurz zuvor in Wiesbaden zustande, "eingefädelt" durch eine langjährige, fürsorgliche Schweizer Mit­arbeiterin, Alice Berner, die mit ihm bei der Übertragung der "New World Translation of the Holy Scriptures" ins Deutsche zusamen­arbeitete, und mich, den Jüngling, in der großen Stadt New York etwas aufgehoben wissen wollte.)

Die Redaktionsmitarbeiter, darunter Gene Smalley, äußern sich bei meinem Besuch sehr beeindruckt über ein kurz zuvor aus dem Zweig­büro Wiesbaden eingetroffenes und von dem ehemaligen Landes­leiter Konrad Franke (1909–1983) ver­fasstes Manuskript mit dem Geschichts­bericht Deutschland für das geplante Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974 – den Großteil nimmt ihre aus Glaubens­gründen erfolgte Verfolgung durch die Nationalsozialisten ein.

Nach meiner Rückkehr in Wiesbaden kann ich Konrad Franke über die positive Reaktion im Brooklyner Hauptbüro erzählen (wir sitzen gerade am selben zugeteilten Tisch im "Bethel"-Speisesaal [Foto vorhanden]). Darüber freut er sich sichtlich und mit strahlenden Augen. Ich verhehle nicht, was die Glaubens­brüder in Amerika gesagt hatten: Der Bericht sei sehr "glaubens­stärkend", aber viel zu lang und müsse gekürzt werden, was Franke aber nichts ausmachte. (Zehn Jahre später erlebe ich, wie umfangreich Konrad Frankes Beschaffung und Auswertung von Originalquellen Verfolgter wirklich gewesen war, offen­sichtlich ein Kulturerbe von unschätzbarem Wert, das mein Leben nachhaltig beeinflussen sollte!)

Übrigens war der Übersetzer des zu langen deutschen Manuskriptes ins Englische ein Amerikaner und Gilead-Missionar der Zeugen Jehovas, der zu diesem Zeit­punkt in Deutschland als reisender Aufseher die Gemeinden ("Kreis­aufseher" und "Ver­samm­lungen" genannt) besuchte und den Auftrag für die Über­setzungsarbeit neben seiner Reisetätigkeit erhielt. Sein Name: Ramon Templeton. Wie er mir später erzählte, saß er damals auf seinen dienstlichen Reisen zeitweise viele Stunden in seinem Auto während die besuchten Zeugen der Orts­versammlung von Haus zu Haus "predigen" (verkündigen) gingen, eine Reise­schreib­maschine auf den Knien, und tippte seine Übersetzungen ins Englische ab. Die Verfolgungs­berichte berührten ihn stark und zehrten an ihm – er habe bald selbst im "Konzen­trationslager" mitgelitten, meinte er. (Die Folge war, dass er fast nichts mehr von den NS-Verfolgungsberichten wissen wollte, was meiner Arbeit Jahre später eine unerwartete Wende geben sollte!)

Ich nehme in meiner Freizeit privaten Fernunterricht in Englisch, belege einen Kurs in Französisch, zwei VHS-Semester in Alt­griechisch. Auto­didaktische Beschäftigung mit Publizistik und Werbung. Erstmals eine Anzeige (eine Gefälligkeit von meiner Seite für einen Bekannten) in einer Fach­zeitschrift für Büro­artikel anonym, privat und unentgeltlich veröffentlicht (Mai 1977). (Irgendwie musste ich meinen Wissensdurst stillen, der durch das Bibel­studium im Haus, die Arbeit in der Groß­buchbinderei oder in anderen Abteilungen (noch) nicht befriedigt wurde!)

… und was man(n) sonst noch hat

Wissens-Durst, Fern-Weh, Reise-Fieber, Liebes-Hunger – was man nicht alles hat. Und wie stand's um das Letzt­genannte? Hier soviel zu diesem Thema: Christopher Freys Beobachtung, "Nichts kann so phantastisch sein wie die Wirklichkeit", erlebte ich in beein­druckender Weise zwar in der Natur und auf Reisen an fremde Orte, aber nicht beim anderen, "fremden" Geschlecht – die "Wirklichkeit" zerstört (noch) mein romantisches idealisiertes Frauen­bild. (Bin nicht nur hochsensibel, sondern war damals dazu noch ein realitätsfremder "Träumer" sozusagen ... 😑)

Da ist ein hübsches Mädchen mit langem Haar in meinem Umfeld, die ich gar nicht (richtig) kenne, verliebt (nur) in ihr Lächeln, und mich trifft doch dann tatsächlich Amors Pfeil richtig – ein schmerzhafter Einschuss, ein Herzsteckschuss mit Fieber, denn die "Liebe" (Verliebtheit) ist quasi nicht vereinbart, einseitig, findet in Abwesenheit einer der beiden Personen statt. Und Ernüchterung tritt (bei mir) ein, wenn man sich real nähert. (Je weniger man mit­einander zu tun hat, desto mehr und größer wurden die Träume. Aus der Ferne sieht eben vieles anders aus, wie hier bereits am Anfang angedeutet.)

Die Realität, bei näherem Kontakt, zerstörte also (noch) meine Romantik oder die realitäts­fremden romantischen Gefühle, und ich reimte im Januar 1974: "Da ist ein Schmerz in dieser Brust. | Mein Bild von dir ist ausgelöscht. | Der süße Traum war weggewischt, | allein durch deine Gegenwart." Die Verliebt­heit steigert sich nur in Abwesenheit des "geliebten" Objekts. (Das bleibt sehr lange so und ich bleibe nicht unverschont von Herz- und Brust­schmerz, Herzsteck­schüssen und Herz­fieber, was zwar für die Gesundheit abträglich sein kann, die innere Chemie einer Verliebtheit baut sich ja nur sehr langsam ab, manchmal erst nach Jahren (bei Teenagern soll das dagegen manchmal sehr schnell gehen), ansonsten jedoch keine Folgen für den weiteren Lebens­weg hat. Gut so, bin eh zu jung zum heiraten!)

Wenige Monate später erwartet mich eine große Aufgabe. Ein Vorrecht, das ich mir heimlich gewünscht oder besser erträumt (um viel mehr lernen zu können), doch nicht erwartet hatte!


RÜCKBLiCKE, 1977 – 1978

Unerwartet eine neue Arbeitszuteilung im "Bethel" durch das Zweigkomitee erhalten:

Wechsel aus der "Fabrik", wie man sagte, also aus der Buchbinderei, 1977 zu einer Sekretärs- und Büro­tätigkeit in der "Dienst­abteilung" (engl. Service Department).*

* Die sogenannte Dienst­abteilung ist die administrative innere geistliche Verwaltung der Religions­gemeinschaft Jehovas Zeugen in Deutschland (inzwischen K.d.ö.R., Körperschaft des öffentlichen Rechts in allen Bundes­ländern) bei der Wachtturm-Gesellschaft (eine religiöse Verlags­gesellschaft innerhalb der Religions­gemeinschaft) in Wiesbaden (später, nach Umzug, in Selters/Taunus).

Diese Abteilung im Zweigbüro nimmt Verwaltungs­arbeiten und die geistliche Aufsicht wahr in Verbindung mit den örtlichen Gemeinden, "Ver­samm­lungen" genannt, ihrer Gründung, ihren Gebiets­grenzen und ihren regel­mäßigen Besuchen durch reisende Aufseher. Alle Versammlungen im Land sind in Kreise und Bezirke eingeteilt, und die Kreis-, Bezirks-, Sonder- und inter­nationalen Kongresse werden ebenso von der Dienst­abteilung aus organisiert.

Schreibtischarbeiten

Ab April 1977 bin ich also der Sekretär von Edmund Anstadt in der Dienstabteilung, die unter der Leitung des bereits erwähnten Konrad Franke stand, dem früheren Leiter des Werkes, der für seinen Glauben im Konzen­trationslager der National­sozialisten gewesen war.

Nach Tonbanddiktaten von Edmund Anstadt schrieb ich als Sekretär unzählige Briefe, in denen auf Anfrage oder Not­wendigkeit zum Beispiel Ehe­angelegenheiten, Probleme oder Schwächen von Menschen und Gemeinden ("Ver­sammlungen" genannt, siehe oben) sowie biblische oder organisa­torische Lösungs­vorschläge behandelt wurden. (War aber selbst kein Entscheidungs­träger.) Durch diese Korrespondenz und die Einsicht in die Fälle und ihre Behandlung profitierte ich nebenher selbst als junger Mensch und konnte menschlich reifen.

Dazu kam im Laufe der Zeit die Arbeit mit der Verschrift­lichung von Briefen nach Tonbanddiktaten von Willi Konstanty, der damals innerhalb der "Dienstabteilung" (landesweite Verwaltung) Briefe mit "biblischen Fragen" und Leserfragen beantwortete. Mich faszinierte seine Art der Recherche, wie er Fragen analytisch auf den Grund ging, die biblischen Kontexte und ursprachlichen Originaltexte berücksichtigte und dann die Antworten formulierte. (Viel später wurde ich im Haus selbst für solche Fragen zuständig und musste sie schriftlich beantworten – aber ich hatte ja einen guten Lehrer gehabt.)

Während dieser Zeit erstmals nach einer Aus­schreibung im Haus (man suchte Schreibtalente) ein Manuskript für einem Artikel verfasst (1978), der dann in der Zeit­schrift Awake! / Erwachet! im Januar 1979 anonym veröffentlicht wurde – ich war überzeugt: Das Texten und Forschen überhaupt oder journalistische Tätigkeiten waren mein(e) Beruf(ung)!


RÜCKBLiCKE, 1979 – 1983

Erst im Frühjahr 1979 sollte mein Traum, für die Watchtower-Redaktion arbeiten zu dürfen, Realität werden.

Die deutsche Redaktionsabteilung, intern "Schreibabteilung" genannt (Writing Department), war erst einige Zeit zuvor im Haus (noch in Wiesbaden) eingeführt worden. Der oben erwähnte Ramon Templeton, inzwischen bzw. erneut selbst ein "Bethelmitarbeiter" geworden (nach Beendigung seiner Reise­tätigkeit als "Kreisaufseher" im Land), war vor mir eine Weile der einzige Mitarbeiter dieses neuen Bereichs und wurde nun mein Abteilungsaufseher.

In der Redaktionsabteilung

Aber so schnell bekam ich keinen eigenen Schreibtisch oder ein Büro von Ramon Templeton zugewiesen. Meine sieben Sachen, in einem Karton verstaut, standen zuerst einige Monate lang unter einem Fenster in der umfang­reichen "Bethel­bibliothek" (Haus­bibliothek), wo ich erst beginnen sollte zu arbeiten, was ich natürlich als Bücher­wurm bereitwillig und begeistert tat!

Ab Mai 1979 also die Erfassung von Büchern und Drucksachen in der großen Haus­bibliothek bei der Wachtturm-Gesellschaft. Fortan verwaltete und erfasste ich als Bibliothekar ebenso alle neuen Bücher in den Haus- und Abteilungs­büchereien in Wiesbaden und nach dem Umzug der Gesellschaft dann in Selters/Taunus (ab 1984) mittels der Dezimal­klassifikation für Bibliotheken.

Durch eine Schenkung zahlreicher äußerst wertvoller und seltener antiquarischer Bibel­übersetzungen, Konkordanzen und Bibel­kommentare durch den befreundeten Architekten und Bibel­sammler Wolfgang Uhlmann aus Frankfurt/Main wurde 1993 die große Hausbibliothek in Selters/Taunus und meine Recherche­möglichkeiten bereichert, so dass sogar durch Bau­maß­nahmen eine räumliche Erweiterung auf der "Bethel­bibliotheks"-Etage im Verwaltungsgebäude erforderlich wurde. (Dem Studium und der Erfassung dieser Bibeln zusammen mit dem belesenen Wolfgang Uhlmann hatte ich als junger Mann bereits in den 1970er Jahren viele Wochenenden in seinem Haus in Frankfurt/Main gewidmet – was eine kleine Universität für mich war. Danke, Wolfgang!)

Jetzt, nach der Erfassung aller Bücher im Haus, bekam ich einen Schreib­tisch in einer Bürozelle zugeteilt und wurde "seßhaft". Dazu die Aufgabe, ein umfang­reiches Zeitungs­ausschnitt­archiv neu thematisch zu organisieren und durch Aktua­lisierungen zu pflegen, was meine allge­meinen Kenntnisse vieler Wissensgebiete ebenfalls sehr erweiterte. (Die Sammlung war ursprünglich von der Übersetzungs­abteilung als deutsch­sprachliche Fundgrube für Fach­wörter und Begriffe angelegt worden; diese Abteilung überträgt alle englischen Watchtower-Schriften ins Deutsche, die gedruckt werden.)

Wir waren neben den lokalen Tages­zeitungen auf über­regionale Zeitungen, wie Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und andere sowie Zeitschriften und Magazine, wie Der Spiegel, Focus, GEO, National Geographic, Times und viele andere abonniert, die ich regel­mäßig für unsere genannten Ablagen und nach verwertbaren Stoff für unsere redaktionelle Arbeit durchging. (Nebenher besuchte ich die Stadt­bibliotheken in Wiesbaden und Frankfurt/Main, wo ich Zugang zu weiteren Print­medien hatte, wie Fach­zeitschriften.)

Ein Bücherwurm lernt Schreiben

Ab Dezember 1979 erhalte ich (neben der Bibliothek und der Pflege der Zeitungs­ausschnitt­sammlung) die Arbeit als Sachbearbeiter und bin nun für die nächsten Jahre hauptverantwortlich für "biblische Fragen", das heißt externe Korrespondenz mit der Beantwortung von Fragen zu Bibeltexten und ihrer Auslegung, Anfragen fast jeglicher Art von Außenstehenden sowie "Leserfragen" – Fragen zu veröffentlichten Artikeln oder Schriften der Wachtturm-Gesellschaft sowie zur Geschichte der Religionsgemeinschaft in Deutschland (oder USA).

Einmal kam ein ausländischer Besucher (ein "Zonenaufseher", der Watchtower-Zweigbüros im Auftrge der leitenden Körperschaft im Hauptbüro inspiziert) in mein Büro und sagte: "Here is the man who knows all the answers!" (Du bist also der Mann, der alle Antworten weiß!) Ich erwiderte: "My job is not knowing but finding answers." (Meine Aufgabe ist, Antworten zu finden und nicht sie zu wissen.) (Bestimmt wäre ich kein guter Quiz­kandidat, denn ich kann offenbar Wissen und Erinnerungen oft nicht (sofort oder augen­blicklich) abrufen. Scheinbar habe ich mir nichts gemerkt oder nichts gelernt, was in der Grundschule ein Problem war, dagegen nicht unbedingt in der Ober­schule, aber bis heute hapert's noch damit.* Für dieses Defizit bin ich schon gering­schätzig behandelt worden.)

* Kürzlich bemerkte ich in einer Antwortmail: "Nein, ich weiß um die genannten Theorien nicht, ich funktioniere anders. Mein Kopf gleicht vielleicht einer fast besenrein hinter­lassenen Miet­wohnung. Ein neuer Mieter stattet sie aus, wohnt kurz darin, zieht dann aus, und hinterlässt sie leer geräumt. An meiner Liste der Veröffent­lichungen siehst du, wie viele 'Mieter' ich schon hatte. Zurück bleibt (fast) nichts. So bin ich gestrickt (worden)." Und sie erwidert: "Das Bild von der leer­gefegten Wohnung erstaunt mich - ich bin eher ein 'Erinnerungs­sammler', wenn man das so nennen kann. Mir sind gleich die vielen (echten) Wohnung eingefallen, in denen ich schon gewohnt habe. Aber mit bestimmten 'Phasen' des Lebens so umzugehen, das hat schon was, wenn's denn gelingt." Vielleicht gehöre ich auch eher zu den visuell räumlichen Lerntypen, also denke "anders", nämlich hauptsächlich in Bildern, doch kann ich hier auf das interessante Thema nicht näher eingehen ohne mich vorher intensiver damit auseinander zu setzen.

Zu dieser Zeit fielen neben den bibel­wissenschaftlichen und exegetischen Fragen, zum Beispiel zu englischen oder deutschen Wiedergaben der Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift aus den Ursprachen Althebräisch (Aramäisch) und Altgriechisch (Koine), weitere Sach­gebiete in mein Ressort: Öffentlichkeits­arbeit/Presse (damals von gering­fügigem Umfang), Biologie (zB Evolutionstheorie und Schöpfungslehre), Bräuche/Feste (heidnische Wurzeln von Weichnachts-, Geburtstags-, Osterbräuchen usw., die von den Zeugen nicht gefeiert werden), medizinische Aspekte (optimale medizinische Behandlungen ohne Blut / blutlose Chirurgie). Die Ergebnisse gründlicher Recherchen flossen in manche Artikel ein.

Ich 'beobachte die Welt'

Dazu kam ab Januar 1980 und dann bis einschließlich Dezember 1985, also sechs Jahre lang, zweimal im Monat das Verfassen von Kurzartikeln in Deutsch oder Zusammenfassungen von sogenannten vermischten Nachrichten und aus vielen Wissensgebieten für eine eigene Rubrik, "Wir beobachten die Welt", in der deutschen Zeitschrift Erwachet! (zwei Beiträge davon übersetzte ich jeweils monatlich ins Englische für die Ausgaben, die von Brooklyn N.Y. aus weltweit publiziert wurden, also für die englische Rubrik "Watching the World", die dann in andere Sprachen übersetzt wurde) – immerhin ist Awake!, damals wie heute (2016), eine der am weitestesten verbreiteten Zeitschriften der Welt!*

* Die Wikipedia bemerkt (abgerufen am 14.08.2016): "Awake! is the second most widely distributed magazine in the world (after the Public Edition of The Watchtower), with a total worldwide printing of over 57 million copies in 106 languages per issue.[1]"
[1] = https://en.wikipedia.org/wiki/Awake!#cite_note-1 (externe Website).

Die deutsche Rubrik diente explizit nicht in erster Linie der Verkündigung, sondern der Information – ich schrieb also über Erstaunliches oder Wissenswertes aus der Tier- und Pflanzenwelt, über wissenschaftliche, medizinische, technische, archäologische Entdeckungen usw. oder über die Gefährlichkeit des Rauchens, Vorzüge des Stillens an der Mutterbrust und vieles mehr.

Den Stoff für die Rubrik fand ich in Zeitungen und Fachzeitschriften, die für unsere Hausbücherei abonniert worden waren, durch regelmäßige Besuche in Stadtbibliotheken (Wiesbaden und Frankfurt am Main) oder ich erhielt Ausschnitte von beauftragten Zeitungslesern aus ganz Deutschland zugesandt; ebenso steuerten die damaligen Watchtower-Zweigbüros in Wien (Österreich) und Thun (Schweiz) regelmäßig clippings bei, das heißt Zeitungsausschnitte von ausgewählten Artikeln, die ich übernahm und redigierte, wenn der Stoff für unsere Rubrik geeignet war.

Die Arbeit für die Rubrik "Wir beobachten die Welt" prägte meine bevorzugte Arbeitsweise, nämlich mittels Information und Fakten einen möglichen Nutzen (eine message, Botschaft) Lesern zu vermitteln. Vorzugsweise sollte der Leser eine Botschaft hinter der Nachricht selbst herauslesen, zum Beispiel Achtung vor der Natur und dem Leben zu haben (zB keine Abtreibungen), den gesundheitsschädlichen Tabakgenuss aufzugeben oder sich gesünder zu ernähren und mehr zu bewegen – also jetzt bitte Computer abschalten (bzw. Handy oder Notebook beiseite), aufstehen und Gymnastik oder einen Spaziergang machen! (Diese Methode sollte dann 1996 ebenso meine Arbeitsweise beim Script einer zeitgeschichtlichen Film- oder Videodokumentation sein, die mein Leben verändern sollte!)

Spannende Recherchen und Interviews

Ab 1984 schrieb ich die ersten Artikel für den Watchtower / Wachtturm – Lebensberichte von Verfolgten unter dem NS-Regime. Ebenso andere Artikel, zum Beispiel über das Schlüsselthema, welchen Nutzen Religionsgeschichte hat, wobei es um Martin Luther und die Reformation ging (1987). Oder für Awake! / Erwachet!, beginnend mit einem Artikel über die Passionsspiele in Oberammergau (vgl. unten).

Ohne Zweifel, ich bekam mit der Zeit immer mehr zu tun, und die Arbeit als Sachbearbeiter, Journalist und Sachautor (writer & researcher) war befriedigend und machte mir Freude!

Ramon Templeton, mein Abteilungsaufseher, war der offizielle "Awake! correspondent in Germany". Wir beide, er und ich, arbeiteten regelmäßig als Watchtower- und Awake!-Artikelschreiber, und wir lieferten (oder unterstützen) Manuskripte für andere Veröffentlichungen direkt an die amerikanischen Körperschaften der Zeugen Jehovas (ich arbeitete somit als Autor oder Mitautor, Redakteur, Journalist und Reporter sowie gleichzeitig als Bibliothekar, Fachkorrespondent und Archivar), Awake-Presseausweis von Johannes S. Wrobel also die Watchtower Society / Watch Tower Society, damals Brooklyn, N.Y. / Pittsburgh, PA., USA, die hauptverantwortlichen Redaktionen und Herausgeber aller Wachtturm-Publikationen. Später stattete mich Brooklyn mit einem eigenen englischen Awake!-Presseausweis aus (Foto).*

* Der englische Text des Presseausweises, wie im Foto zu sehen, lautet: "This is to certify that Johannes Wrobel, bearer of this card, is an authorized representative of the news magazine Awake! 25 Columbia Heights, Brooklyn, NY 11201-2483, U.S.A., and is therefore entitled to the courtesies extended to representatives of the press."

Im Laufe der Jahre folgte die anonyme Veröffentlichung zahlreicher Beiträge und Artikel unterschiedlichster Thematik (Rewriting-Prinzip im Writing Department in Brooklyn N.Y., also dort die Schlussredaktion,* etwa wie seinerzeit beim bundesdeutschen Magazin Der Spiegel) für die genannten Zeitschriften, u.a. auch zur Neuen-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift (engl./dt.) und für die Wachtturm-Zeitschriftenrubrik "Fragen von Lesern". Die in Englisch eingesandten Manuskripte wurden nach der Schlussredaktion und Bearbeitung im damaligen Hauptsitz Brooklyn N.Y. (USA) in Hunderte von Sprachen, einschließlich in Deutsch, übersetzt, dann gedruckt und weltweit verbreitet und gelesen.

* Jeder Zeuge Jehovas könnte, theoretisch ungeachtet seines Geschlechts und seiner Berufung innerhalb der Gemeinschaft, selbst wenn der Inhalt über eine reine Information hinausgeht und der religiösen Belehrung dient (intern "geistige Speise" genannt), der Haupt­redaktion mit einem Manuskript zuarbeiten, da aus biblischer Sicht der Zeugen Jehovas die Kernorganisation, vertreten durch bzw. inzwischen identisch mit der leitenden Körperschaft (intern "treuer und verständiger Sklave", Matthäus 24,45) für die Herausgabe und Verteilung der "Speise" unmittelbar verantwortlich ist, während die Recherche und Vorbereitung der geistigen "Speise" durchaus durch andere erfolgen kann. Der eingereichte Stoff, der letztendlich durch den "Sklaven" veröffentlicht wird, wird ohnehin vor dem Druck sorgfältig geprüft, bearbeitet, geändert, erweitert usw.

Die vielen Recherchen stillen meinen Wissensdurst und ich lerne dabei, learning by doing, Informationen zu sammeln, auf ihren Wahrheitsgehalt und Nutzen hin zu prüfen und in einem allgemeinverständlichen Manuskript mit dem Ziel der Ver­öffentlichung für eine weltweite, bunte Leserschaft zu verarbeiten.

Die Arbeiten als Erwachet!-Journalist oder Reporter waren mit Interviews interessanter Menschen verbunden, wie dem damaligen Leiter der Passionsspiele in Oberammergau, dem Holzschnitzer Hans Maier und mit einem seiner Jesusdarsteller, die sich bereitwillig sprechen ließen (1984).

Oder mit dem bekannten Gitaristen Ricky King alias Hans Lingenfelder (1988), eine sympathische Persönlichkeit, übrigens ein Zeuge Jehovas, ähnlich wie zwei andere bekannte Musiker und Sänger, zumindest deren Mütter und sie selbst wie ich waren eine Zeitlang aktive Zeugen Jehovas, nämlich Michael Jackson (1958–2009) und Prince (1958–2016). In diesen Kreis gehört auch Oliver Pocher, der als Sänger, Komiker, Moderator und Schauspieler bekannt ist.


RÜCKBLiCKE, 1984

Meine dritte Heimat wird durch den Umzug der Wachtturm-Gesellschaft Niederselters in der Gemeinde Selters/Taunus (ab Dezember 1983), diesmal nicht am Wasser gelegen – das heißt eigentlich doch, der Ort ist nämlich die Heimat von "Urselters" – im Englischen sagt man bis heute seltzer für Mineralwasser!

Ich lebte noch immer in Hessen, aber nicht unbedingt unter Hessen, da sich die große "Bethelfamilie" aus Angehörigen vieler Nationen und deutscher Bundesländer zusammensetzt. Natürlich lernte ich im Laufe der Zeit viele Hessen außerhalb meiner Arbeitsumgebung kennen und schätzen. Es gibt überall solche und solche Menschen, ich mag lieber solche.

Ein "Paradies"

Im Jahr 1984 fand also der Umzug der Wachtturm-Gesellschaft und ihrer Einrichtungen von Wiesbaden nach Sel­ters/Taunus statt – in einen großflächigen neu erbauten Wohngebäude- und Bürokomplex mit parkähnlichen Grünanlagen, Wäldchen und einem kleinem Schwimmbad sowie mit moderner Druckerei, Groß­buchbinderei und automatischen Buch­fertigungsstraßen, Werkstätten (Installation, Malerei, Schlosserei, Kfz-Werkstatt u.a.), graphischen und anderen Abteilungen, Großküche mit geräumigem Speisesaal für die damals über 1.000 Mitarbeiter, Großwäscherei, Nähstube für Änderungen u.a. mehr. Das war eine wunder­schöne Arbeits- und Wohnstätte, ein kleines vorweg genommenes friedliches "Paradies"!

Etagen in einem der Wohngebäude in Selters/Taunus dienen der Kranken- und Altenbetreuung, so dass für die lebenslange Versorgung der Ordensangehörigen gesorgt ist (sofern sie den Orden nicht verlassen, was bei mir dann Ende November 2008 der Fall war).

Ein Werktag im "Bethel" begann damals mit dem Pflichtbesuch im riesigen lichten Speisesaal um 7 Uhr bei der Besprechung des "Tagestextes", eines Bibeltextes (15 Min.), und anschließendem Frühstück (15 Min.). Arbeits­beginn war um 8 Uhr. Mittagessen im Speisesaal um 12 Uhr, die Pause verbrachte man auf seinem bewohnten Zimmer (ich brauchte oft ein Nickerchen) oder mit Kaffeebesuchen bei Mitarbeitern auf ihrem Zimmer. Weiterarbeit ab 13 Uhr, 17 Uhr Arbeits­ende. Abendessen im Cafeteria-Stil im Speisesaal (sofern man das wolle, man konnte die Speisen ebenso auf sein Zimmer mitnehmen). Der geschmackvoll eingerichtete Speisesaal in Selters/Taunus war so groß, daß er den tausend "Bethelmitarbeitern" (m/w) Platz bot.

An den Abenden jeweils Besuch religiöse Zusammenkünfte: Im Haus montags Wachtturm-Studium der "Bethelfamilie" und ggf. anschließend ein biblischer Vortrag (insgesamt dann ein bis fast zwei Stunden). In den zugeteilten Ortsgemeinden, zu meiner Zeit noch Dienstag ("Versammlungsbuchstudium", inzwischen verkürzt am Sonntag) und Donnerstag oder Freitag ("Theokratische Predigtdienstschule" und "Dienstzusammenkunft", insg. fast zwei Stunden, inzwischen abgeändert), am Sonntag Öffentlicher (Biblischer) Vortrag und Wachtturm-Studium (insgesamt fast zwei Stunden).

Am Samstag (halber Arbeitstag) und an freien Abenden dann Verkündigungstätigkeiten in einem zugeteilten Wohngebiet der Ortsversammlung, "Predigtdienst" genannt (etwa zwei Stunden oder mehr, hinzu kommen die Fahrzeiten).

Ein ausgefüllter Zeitplan für "Bethelmitarbeiter"? Ohne Frage und doch blieb noch Zeit neben der gottesdienstlichen Tätigkeit (auf die man sich voll konzentrieren konnte, weil die Einrichtung uns häusliche Arbeiten, wie Wäschewaschen, Zimmerputzen und die Zubereitung von Mahlzeiten abnahm, was nach meinem Weggang im "Bethel" etwas anders gehandhabt wird) für viele private Aktivitäten, wie Lesen, Musik, Sport, Wandern, Radfahren usw.

Ich habe von Anfang an nie bestritten, dass der Lebensrhythmus im "Bethel" nicht dem meinigen entsprach, und doch habe ich sehr gerne persönliche Opfer gebracht, um meine Arbeit im "Bethel" tun zu dürfen.

Gute Erinnerungen

Die herrlichen tiefen Wälder des Hochtaunus, meine Wanderungen am schönen Rhein zwischen Rüdesheim und Boppard und die regelmäßigen Entdeckungsspaziergänge am Sonntag in der historischen Altstadt von Limburg an der Lahn (ich liebte den Fluss) mit seinen bunten Fachwerkhäusern und dem uralten Dom (erst 2008, als ich wegging, kam dort der später heftig umstrittene Franz-Peter Tebartz-van Elst bis 2014 ins Bischofsamt, was aber inzwischen sicher längst vergessen ist) verknüpfe ich mit meinem Leben in Selters/Taunus (Urselters). Und diese Bilder bleiben in angenehmer Erinnerung. (Heute habe ich neue schöne Ausflugsziele hier rund um Freilassing, Salzburg und im Landkreis "Berchtes­gadener Land", an Saalach und Salzach, mit seinen geschichtsträchtigen Orten, worüber ich auf meinre Homepage "Stephan Wrobel" schreibe, wie es gegenwärtig Zeit und Umstände erlauben.)

Es gab natürlich auch Urlaubszeiten für die "Bethelmitarbeiter", die ich gewöhnlich mit meiner Lieblingsbeschäftigung, dem Reisen verbrachte. Foto Wie 1977 eine Rucksackwanderung mit meinem Freund Jürgen nach Irland. Entlang der irischen Küste im County Clare, zu den Cliffs of Moher, zurück über Killarney, Ladies View und Limerick (Foto), wenn ich mich nicht irre – ich werde mehr Fotos und den Reisebericht noch heraussuchen und einiges davon präsentieren. (Als junge Leute erhielten wir damals verbilligte Bahn- und Flugtickets von Wiesbaden zum Bahnhof Brüssel in Belgien und von dort zum Shannon Airport in Irland; Rückreise über Paris in Frankreich, um meinen Freund Michael in Bourg la Reine, wo wir übernachten durften, und die echte "Mona Lisa" im Louvre zu besuchen und natürlich noch mehr Sehenswürdigkeiten der großen Stadt. Eine Low-Budget-Tour nach meinem Geschmack.)

Oder eine Autoreise mit Vier-Länder-Stationen (Schweiz, Spanien, Frankreich und Luxemburg), wobei die Costa Brava (mit einer wilden Zeltübernachtung) und Barcelona (mit Kurzbesuch bei Familie Gras) im Reisemittelpunkt standen – Übernachtungen jeweils in den "Bethel"-Heimen der Watchtower-Zweigbüros, bei Glaubensbrüdern, im Zelt oder in einer Frühstückspension. (Meine Reisen waren, wie auch oben bei Venedig erwähnt, stets Low-Budget-Unternehmungen.)

Ich denke vor allem noch gern an viele gute und liebe Menschen und Mitarbeiter dort und im "Bethel" Wiesbaden zurück, wie Maria Hombach, Trude und Konrad Franke, Gertrud und Martin Pötzinger (von 1977 bis 1988 ein Mitglied der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas im damaligen Hauptbüro in Brooklyn N.Y., engl. Governing Body), Elfriede Löhr, Änne und Heinrich Dickmann und viele viele weitere. Oder ich denke an Besucher und Menschen, die ich außerhalb des "Bethels" traf und später interviewte, wie Erich Frost (zum KZ-Lied), Ernst Wauer, Max Hollweg, Hans (Johannes) Neubacher, die Geschwister Kusserow und viele andere mehr.

Alle eben Genannten waren vom NS-Regime wegen ihres christlichen Glaubens, der mit der Ideologie und den Forderungen im National­sozialismus unvereinbar war (zB mit "Heil Hitler" zu grüßen) verfolgt, inhaftiert, drangsaliert worden und knapp dem Tode entronnen, einige ihrer Verwandten ermordet, hingerichtet oder in Haft umgekommen! Und doch lernte ich sie als Persön­lichkeiten kennen, die Freundlichkeit und Zufriedenheit ausstrahlten, die meisten von ihnen inzwischen verstorben. (Das bringt mich gleich wieder zum Thema Geschichtsaufarbeitung und Gedenkarbeit, zur Erinnerungskultur, der ich heute unter dem Motto "Spurensuche" einige Webseiten für diese NS-Opfer und alle anderen NS-Opfergruppen widme, wie es meine Zeit und Umstände erlauben.)

Zuvor noch etwas: Durch den Ortswechsel von Wiesbaden nach Selters/Taunus war ich bald auch eine Zeitlang mit neuen Ortsversammlungen der Zeugen Jehovas als Ältester verbunden (neben meiner "Bethel"-Zugehörigkeit). Dazu gehörte Diez an der Lahn, wo ich vor Ort weitere Glaubensbrüder kennenlernte, eine Bereicherung – darunter die betagte Dorothea Karus, die einmal, noch als Schulmädchen, den berühmten Physiker Albert Einstein aus Ulm (1879–1955) getroffen hatte, die Anekdote gebe ich hier separat wieder. (Siehe Exkurs: Sie traf Albert Einstein. Ist Albert Einstein in der Schule "sitzengeblieben"?)

Erwähnenswert sind hier sicherlich ebenso die Angehörigen der Familie Schumann, die sich im Laufe ihres Lebens stets in Nachbarschaft von "Bethel"-Heimen oder Wachtturm-Zweigbüros ansiedelten, sei es in Magdeburg, Wiesbaden oder dann in Selters/Taunus, wie Gerhard Schumann, der wie sein Vater und Lehrmeister Wilhelm Schumann sowie sein (leider in Wies­baden zu früh verstorbener) Bruder Günther begnadete Fähigkeiten in der Chiropraktik (Handheilverfahren durch Wirbel­adjustierung) hatten – die freien Behandlungen von Günther und Gerhard Schumann waren mir gesundheitlich stets sehr hilfreich, was ich heute etwas vermisse. (Über Vater Wilhelm Schumann und andere schrieb ich später Biographien für das "Magdeburger Biographische Lexikon".)


RÜCKBLiCKE, 1985 – 1989

Noch 1984 begann ich auf Anweisung meines Abteilungsleiters Ramon Templeton den ersten Lebensbericht unter dem NS-Regime verfolgter Zeugen Jehovas für den Watchtower / Wachtturm zusammenzustellen.

Der Anstoß kam ursächlich durch ein Memo von der Hauptredaktion in Brooklyn N.Y., die an solchem Stoff aus Deutsch­land für ihre Zeitschrift sehr interessiert war und mehr davon von uns erhalten wollte; ab 1986 wünschten sie solche Lebensberichte von Verfolgten sogar für die Zeitschrift Awake! / Erwachet! (Ramon Templeton lag wie oben erwähnt der Verfolgungsstoff aus der brutalen NS-Zeit nicht, so daß er mir hier das Feld bei künftigen Artikeln überließ; er schrieb dafür ausgezeichnete andere Artikel zu allen möglichen Themen! Ramon Templeton verstarb im Oktober 2015. Ein Lebensbericht über seine Ankunft 1951 in Deutschland zusammen mit anderen Gilead-Missionaren aus den USA und seine Erlebnisse in Verbindung damit ist auf jw.org zu finden.)

Lebensberichte als Schlüsselerlebnis

Bei meinem ersten zusammengestellten Lebens- und Verfolgungsbericht für eine Veröffentlichung handelte es sich um einen Artikel über die nationalsozialistische Verfolgung der gesamten Familie Kusserow aus Bad Lippspringe, und er erschien redigiert in Brooklyn N.Y. im Wachtturm am 1. September 1985, Seite 10 bis 15 unter dem Verfassernamen Magdalena Reuter geb. Kusserow (und übersetzt in zahlreichen anderen Sprachen weltweit in den entsprechenden fremsprachigen Ausgaben der Zeitschrift).

Ihre Schwester Annemarie Kusserow hatte seit der Befreiung aus der Haft 1945 zahlreiche Dokumente, Fotos, Briefe und andere Erinnerungsstücke über ihre verfolgte Familie aus der NS-Zeit sorgfältig gesammelt und archiviert. Die außer­gewöhnliche Sammlung in ihrem gast­freundlichen Haus in Eschborn ging weit über das hinaus, was der oben erwähnte Konrad Franke als Gesamtbericht von der Familie für seine Recherchen zum Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974 erhalten hatte!

Sieben Jahre später, 1991, greift Martin Smith in England (Starlock Pictures) in einer TV-Filmreportage für die BBC das Familienschicksal der Kusserows auf. Später erscheint sein ergreifender Filmbericht auf Video und DVD. Die Watchtower Society übernimmt sogar den Film in ihr Videoangebot, und so wird die Familie Kusserow nicht nur durch ihren Verfolgungs­bericht im Watchtower / Wachtturm zahlreichen Menschen weltweit bekannt. (Der Videofilm von Martin Smith war quasi ein Vorläufer der Videodokumentation "Stand Firm"/"Standhaft trotz Verfolgung", an der ich dann Anfang 1996 in Brooklyn N.Y. arbeiten durfte und die mein Leben verändern sollte!)

Nach der Veröffentlichung des Artikels über die Familie Kusserow folgten weitere Recherchen und Artikel von meiner Seite über/von verfolgten Überlebenden und einst Inhaftierten, einige sogar als Doppeltverfolgte, also verfolgt unter beiden deutschen Diktaturen, zum Beispiel Richard Rudolph und andere, wie Eduard und Ruth Warter (1987), Charlotte Müller (1997), Maria Hombach (1989), Ernst Wauer (1991) und Josef Rehwald (1993). Einige wenige nach Brooklyn gesandte Artikel mit Lebensberichten wurden letztendlich nicht veröffentlicht, weil die Personen leider zwischenzeitlich verstorben waren, zum Beispiel Johannes Schindler (Frankfurt/Main) oder Erna Ludolph (Lübeck) bzw. mancher Stoff präsentiert sich heute umgearbeitet in der vielsprachigen Online-Bibliothek der Watchtower Society bzw. Wachtturm-Gesellschaft (jw.org).

Die Arbeit an den ersten Lebensberichten von Verfolgten war ein Schlüsselerlebnis für mich! Solche Artikel erforderten eine tiefere Beschäftigung mit dem Thema staatliche Verfolgung mit allen ihren Hintergründen und ihren Folgen für die betroffenen Bibelforscher (Zeugen Jehovas), damit die Ausarbeitungen sachlich und zeitgeschichtlich korrekt waren.

Ich beschließe und unternehme daher, um mich sachkundig zu machen (auch im Rahmen meiner Beantwortung von "Leserfragen", die geschichtliche Fragen betreffen konnten), intensivere persönliche Forschungen zur Geschichte der deutschen Bibelforscher in den USA und in Deutschland ab 1870 (Studium der in der "Bethelbibliothek" vorhandenen alten Jahrgänge von Wachtturm, Watchtower, Goldenes Zeitalter, Golden Age und anderen Watchtower-Quellen ab den ersten gedruckten Ausgaben).

Und dann vor allem Studium der vorhandene Quellen zu ihrer Verfolgung und Ermordung unter den Diktaturen der NS- und DDR-Zeit. Aus diesem Grund entschließe ich mich anläßlich eines Berlin-Besuches und auf dem Ludwig-Barnay-Platz, siehe oben, für mich das private Forschungsprojekt "lila Winkel" ins Leben zu rufen, um die Grundlagen für die Ver­wirk­lichung dieses Vorhabens zu schaffen – fast eine Lebensaufgabe!

Quellen als Kulturerbe

Neben den Lebensberichten geben noch andere Faktoren den Anstoß zur Geschichtsaufarbeitung: Ich bekomme im August 1985 einen Arbeitscomputer ins Büro gestellt! (Mit Computerhilfe gelang der enorme Arbeitsaufwand und die hilfreiche Verknüpfung von gesammelten Informationen, denn ich selbst verfüge sicher über kein gutes Erinnerungsvermögen.)

Und ich bekomme unerwartet Zugriff auf die größte Sammlung hand- und maschinenschriftlicher Originalberichte von Verfolgten mit Dokumenten (Primärquellen) – sie befinden sich im Nachlass des ehemaligen Leiters Konrad Franke und waren von ihm für den umfassenden Verfolgungsbericht im Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974 deutschlandweit gesammelt (wie oben erwähnt), mit Einbeziehung der Zweigbüros in der Schweiz und Österreich, und dann punktuell für sein Jahrbuch-Manuskript ausgewertet worden.

Nach dem Ableben von Konrad Franke am 31. Juli 1983 übernahm mein Arbeitsbereich, die "Schreibabteilung" (Redaktionsabteilung), seine Quellen-Sammlung (die Ordner waren in etlichen Kartons in seinem Büro unzugänglich für andere verstaut), um sie möglicherweise für Lebensberichte zur Veröffentlichung im Wachtturm zu verwenden, was dann, wie oben erwähnt, mit dem Kusserow-Artikel 1984/85 begann. (So äußerte sich bei der Übernahme der Unterlagen mein Abteilungsleiter Ramon Templeton über die künftige Verwendung der "Jahrbuch 1974"-Unterlagen. Er sah ausnahmsweise nur darin, also im Schreiben einiger Lebensberichte für unsere Publikationen, einen Sinn für die längerfristige Aufbewahrung der Sammlung. Denn die für Wachtturm-Veröffentlichungen verwandten Unterlagen und Quellen sollten auf Anweisung vom damaligen Hauptbüro in Brooklyn nicht länger als sieben Jahre [nicht "neun", wie ich zuerst aus dem Gedächtnis schrieb] aufbewahrt und danach entsorgt, also vernichtet werden – klar, das war zur Entlastung der Papierablagen der Abteilung gedacht, ein analoges Archiv existierte nicht und Digitalisierungen waren noch unbekannt.)

An eine Weitergabe der sicherlich für Historiker und KZ-Gedenkstätten wertvollen von Konrad Franke gesammelten Verfolgungs-Quellen zur Auswertung oder Kenntnisnahme, die unter anderem zahlreiche KZ-Erlebnisberichte enthalten, wurde nicht gedacht – ehrlich gesagt, ich auch nicht.

Auf Anfragen sollte damals grundsätzlich auf den veröffentlichten "Jahrbuch 1974"-Bericht und relevante Lebensberichte im Wachtturm verwiesen werden und daran hielt ich mich. (Diese Berichte sind teilweise noch heute über www.jw.org zugänglich.) Die Verfolgungs- und Geschichtsberichte der Augenzeugen aus Privathand, die vielfach auch die Zeit vor 1933 (sowie nach 1945) behandelten, sollten ursprünglich nur dem "Jahrbuch 1974"-Bericht dienen und galten als intern (d.h. sie sollten mit Sachverstand behandelt und von Gegnern nicht missbraucht werden können). Sie konnten ohnehin nicht vor der Sichtung und Erfassung, was aus Zeitgründen dann lange auf sich warten ließ, herausgegeben werden. (Konrad Franke hatte im Vorfeld die Verfasser aufgefordert, das Original an ihn und jeweils eine Kopie oder Abschrift bei sich sorgfältig zu verwahren. Folglich waren viele dieser Augenzeugenberichte von Verfolgten und von Zeitzeugen nicht nur im Zweigbüro Wiesbaden, sondern im ganzen Land verstreut in Privathänden vorhanden. Dazu kommt eine Vielzahl von Bildmaterial. Das sollte Jahre später mancherorts in Verbindung mit "Standhaft"-Ausstellungen für die lokale Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verfolgung der Zeugen Jehovas zum Vorteil gereichen. Franke sprach sein ungekürztes Jahrbuch-Manuskript zusätzlich auf Tonband, sicherlich einerseits zum Gegen-Hören durch einige ehemalige Mitstreiter. Andererseits deponierte er Kopien der Tonbänder an mehreren Stellen außerhalb des "Bethels" offenbar aus Sicherheitsgründen, falls in Westdeutschland, wie in der DDR erfolgt, eine staatliche Verfolgung ausbrechen sollte. Er bezweckte damit zweifelsohne außerdem, etwas für die Bewahrung dieses geschichtlich wertvollen Erinnerungsgutes zu tun.)

Mein Abteilungsaufseher, Ramon Templeton, der aus Kalifornien (USA) stammte, war grundsätzlich überhaupt nicht davon begeistert, wie oben angedeutet, den gesammelten deutschen Verfolgungsberichten größere Beachtung zu schenken. Ich befürchtete, dass die Unterlagen, wenn sie einmal in "falsche" Hände innerhalb der Organisation geraten würden, aus Unwissenheit oder Ignoranz verloren gehen könnten.*

* Kurz nach dem Ende des zweiten Weltkrieges 1945 sollen die Originale vieler Verfolgungsberichte aus Deutschland ins Hauptbüro gesandt, so wurde mir glaubhaft berichtet, jedoch später im Auftrag des damaligen Watchtower-Präsidenten Nathan H. Knorr (1905–1977) vernichtet worden sein, da er einen Schlußstrich unter diese Geschichte ziehen und Einzelpersonen nicht besonders hervorgehoben werden sollten. (Es war Knorr, der Theodore Jaracz 1974 einlud, ein Mitglied der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas oder "Governing Body" zu werden, und mit Jaracz sollte ich etliche Jahre später noch auf dramatische Weise zu tun bekommen, was die Geschichtsarbeit betraf, und wie unten berichtet wird. – Ich achtete die Bemühungen Theodore Jaracz, später für die Interessen des Werkes von Jehovas Zeugen viel zu reisen, so in Osteuropa und der Sowjetunion, wo damals Betätigungsverbote aufgehoben und rechtliche Anerken­nungsversuche viel­versprechend waren, was ich ihm gegenüber einmal mit wenigen Worten der Wertschätzung nach einem Watchower-Studium der Bethelfamilie in Brooklyn anläßlich meines Aufenthaltes dort zum Ausdruck brachte. Ein weiterer Berührungspunkt, mit ihm persönlich zu sprechen, diesmal dienstlich, ergab sich im August 1993 auf dem gigantisch großen internationalen Kongreß der Zeugen Jehovas in einem Stadion in Kiew (Kiev), Ukraine, worauf ich hoffe, noch später einzugehen.)

Abgesehen davon, daß der Redaktionsbereich Writing in Brooklyn nach sieben Jahren seine Unterlagen ohnehin in den Papierabfall warf (wie oben angedeutet). Dazu zählten ebenso historische Fotos (Beispiele sind mir bekannt und stammen aus zuverlässiger Quelle) wie Dokumente. So gilt der Original-Brief (siehe unten) von Nobelpreisträger Thomas Mann als positive Expertise über das 1938 von der Watchtower Society veranlasste und in der Schweiz gedruckte Buch Kreuzzug gegen das Christentum, ein unschätzbares Zeitdokument zur NS-Verfolgung, bislang als verschollen (vgl. mein Essay zum "Kreuzzug"-Buch, 2001).

Anders die Handhabung im obersten Verwaltungsbereich Executive, wo man Schriftverkehr offensichtlich bleibend aufbewahrte, so daß ich zB die Briefe und konkreten Anweisungen von Anfang 1933 zwischen Watchtower-Präsident J.F. Rutherford und Paul Balzereit, dem Leiter des Zweigbüros in Magdeburg, zum Sonderkongreß in Berlin-Wilmersdorf am 25. Juni 1933 und der "Erklärung" (engl. Declaration of Facts) an die Reichsregierung zu Gesicht bekam als ich Anfang 1996 in Brooklyn arbeitete. (Was ein wertvoller Input war, um danach Falschdarstellungen und Desinformation in Verbindung mit dem Berliner Kongreß von 1933 noch besser entgegen zu treten.)

Bei der Beantwortung von Anfragen von außen, so hieß es intern, sollten der Verfolgungsbericht im "Jahrbuch 1974" und/oder andere Wachtturm-Veröffentlichungen zum Thema (zB Lebensberichte) quasi "genügen" und konnten ggf. als Fotokopien versandt werden. (Allerdings waren die Wachtturm-Quellen überwiegend mit der Absicht der religiösen Verkündigung und Ermutigung der Mitgläubigen verfasst worden. Diese Berichte waren aus der Sicht der Opfer geschrieben, was an sich überhaupt kein Problem darstellt, doch sie enthielten nicht unbedingt viele Details, die der zeitgeschichtlichen Forschung hätten dienlich sein können, weil bei ihrer Abfassung nicht an Gedenkstätten, Museen oder Historiker gedacht worden war, sondern an die religiöse Erbauung und an ein "Zeugnis" der Standhaftigkeit für Außenstehende.)

Eine andere Möglichkeit, Anfragen zur Verfolgung mit Quellen zu beantworten, gab es zu dieser Zeit nicht, abgesehen noch von externen Historiker- und Zeitzeugenarbeiten, die es in der zeitgeschichtlichen Literatur ab 1945 gibt, auch von Mithäftlingen der inhaftierten Bibelforscher. Erst ab 1993 steht das hervorragende Standardwerk Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im "Dritten Reich" von Dr. Detlef Garbe (externe Website) zur Verfügung, worauf ich in Teil II der Autobiografie kurz eingehe, also ebenfalls von einem Außenstehenden verfasst, dem langjährigen Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, heute Professor in Hamburg.

Außerdem wären die zeitaufwendigen unmittelbaren Befragungen von Zeitzeugen als Quellen in Frage gekommen, was zu diesem Zeitpunkt nicht praktikabel war, nicht zuletzt weil es dafür keinen Auftrag oder kein Projekt gab. Überhaupt galt intern eine geschichtliche Aufarbeitung der Verfolgungszeit als überflüssig. Viele Zeitzeugen schwiegen zu den ungeheuer­lichen, heute beinahe unvorstellbaren Geschehnissen unter der braunen und der roten Diktatur in Deutschland. Und wenn überhaupt, war es ein kleiner Kreis oder vielfach erst die Generation der Enkel, die sich für das Schicksal ihrer verfolgten oder ermordeten Verwandten interessierten.

Dagegen sah ich jetzt eine einmalige Gelegenheit gekommen, meinen Jahre zuvor, Mitte der 1980er Jahre, gefassten Entschluß, eines Tages die Verfolgungsgeschichte der "vergessenen Opfer" öffentlich­keitswirksam aufzu­arbeiten (privates Forschungsprojekt "Lila Winkel" bzw. "jwhistory", siehe auch oben) zu verwirklichen. Mit der Quellensammlung der Zeitzeugen bei Konrad Franke konnte ein wertvoller Fundus an ergreifenden und detaillierten Informationen aus erster Hand über die Verfolgung und zur Geschichte des Gemeinschaft insgesamt eingesehen und jeweils bei Bedarf ausgewertet werden. (Nämlich durch die nun vorhandenen zahlreichen Erinnerungsberichte von Augenzeugen aus Konzentrationslagern, Gefängnissen und dem Untergrundwerk sowie Berichte über die Anfänge der Verkündigungstätigkeiten und Versammlungs­ bzw. Gemeindegründungen an vielen Orten in Deutschland vor und seit dem Ersten Weltkrieg. Letzteres fiel ohnehin ebenso in meinen offiziellen Aufgabenbereich als Korrespondent bei der Beantwortung von Leserfragen, sofern eine derartige Frage im Zweigbüro in Wiesbaden bzw. später in Selters/Taunus eintraf.)

Die originäre Quellensammlung (wobei nur ein Bruchteil davon im Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974 aus Platzgründen Verwendung finden konnte) war meiner Meinung nach ein zeitgeschichtliches Kulturerbe von unschätzbarem Wert – vielleicht sogar ein Weltkulturerbe, das es dauer­haft zu bewahren und vor Ignoranz zu schützen galt! Leider hätte in Selters/Taunus und in Brooklyn, das war mir klar, nicht jeder so empfunden und gedacht wie ich. Es existierte bei der Religionsgemeinschaft ja nicht einmal ein "Archiv" im klassischen Sinne. Bevor ich weiter auf die Quellensammlung von Konrad Franke und die Möglichkeiten, die sie bot, eingehe, ein kuzer Rückblick auf meine Ausgangsposition für Recherchen zur Geschichte der Zeugen Jehovas in Deutschland.

Ich befand mich seit Anfang der 1980er Jahre (und fast bis zu meinem Weggang im November 2008) durch meine offizielle, hauptamtliche Arbeits­zuteilung im "Bethel" in Wiesbaden und später nach dem Umzug der Wachtturm-Gesellschaft nach Selters/Taunus in der unfassbar glücklichen Position, was den Zugang und die Auswertung von Quellen zur Wachtturm-Geschichte betraf sowie nun, wie oben erwähnt, zu den wertvollen Zeitzeugenberichten der Verfolgungzeit im Nationalsozialismus, die im Büroraum des verstorbenen Konrad Franke gelagert hatten.

Bei Anfragen jeder Art, die in meinen Arbeitsbereich fielen, trat ich für die sachkundige Beantwortung durch Recherche als ersten Schritt in Aktion, gewöhnlich bei "biblischen Fragen" in der internationalen Wachtturm-Literatur (in Deutsch und Englisch stand sie komplett in der Hausbibliothek zur Verfügung) und bei Bedarf in Bibelkommentaren und altgriechischen und hebräischen Wörterbüchern.

Neben anderen Schwerpunktthemen, betrafen die Anfragen auch die Geschichte der Zeugen Jehovas in Deutschland, was intensive Recherchen erfordern konnten, um sich sachkundig zu machen. Dafür standen mir die achtstündige Arbeitszeit (1) während der Beantwortung der "Leserfragen" und externen Anfragen von Aussenstehenden und Einrichtungen, (2) bei Recherchen für laufende Artikel-Manuskripte oder (3) bei der Pflege der großen Hausbibliothek, wofür ich zuständig war und die praktisch alle deutschsprachigen und viele originäre englische Wachtturm-Veröffentlichungen und andere Literaturquellen enthielt, wie bereits oben erwähnt.

Bei Bedarf auch in meiner Freizeit. Niemand sonst hatte zu den Unterlagen ohne weiteres Zugang, abgesehen in der Hausbibliothek, geschweige denn überhaupt großes Interesse dafür, kein Mitarbeiter oder Mitarbeiterin, vor allem nicht, wie erwähnt, mein Abteilungs­aufseher. Das allgemeinen Desinteresse an Geschichte fand ich bedauerlich, konnte daran aber nichts ändern.

Es geschah wohl einige Zeit nach Beginn meiner Zuteilung als Korrespondent für "biblische Fragen" (Leserfragen), dass eine Anfrage einging nach einem "Pilgerbruder" namens Karl Wellershaus aus Wermelskirchen, der in 1920er Jahren als reisender Wachtturm-Vortragsredner in Deutschland diente, wobei ich feststellen mußte, praktisch weder Kenntnisse über das frühe Werk der Bibelforscher in Deutschland noch Zugang dazu zu haben, weil kein Archiv im Haus existierte. (Quellensammlungen wurden in der Redaktionsabteilung beispielsweise projektorientiert angelegt und nach Veröffentlichung eines Artikels eine Zeitlang aufbewahrt für eventuelle Rückfragen, doch mit der Vorgabe im Sinn, sie eines Tages aufzulösen, also zu entsorgen, wie das im Hauptbüro, damals in Brooklyn N.Y. offensichtlich in der Redaktionsabteilung üblich war). Die Fragestellerin hatte offenbar berechtigte Gründe, mehr über Wellershaus zu erfahren, vielleicht war sie eine Verwandte von ihm und nun Zeugin Jehovas geworden – die Gründe sind mit nicht mehr erinnerlich. Jedenfalls wollte ich die Frage nicht dadurch "beantworten", uns sei 'darüber nichts bekannt', wir könnten hier nicht helfen, abgesehen mit einem Hinweis auf das "Jahrbuch 1974", wo Wellershaus kurz erwähnt wird (was der Fragestellerin sicherlich ohnehin bekannt war). Also begann ich zu recherchieren, wie ich das mit der Zeit gelernt hatte und gewohnt war.

Mit der Zeit konnte ich mir umfassende Einblicke und Kenntnisse zur Geschichte der Zeugen Jehovas in Deutschland, einschließlich der Verfolgungsgeschichte, aneignen. So werde ich zum nichtakademischen Geschichtsforschenden (engl. historian, dt. Geschichtsschreiber, vgl. Historiker), der mit derselben Sorgfalt vorgeht wie seit Jahren gewohnt bei den quellenbasierten Artikeln und der Bibelexegese – akribisch, analytisch, genau. Learning on the Job und Learning by Doing ist von Jugend an eine meiner obersten persönlichen Lebensregeln (Maxime).*

* "Learning by Doing ist neben dem Lernen am Modell die häufigste Lernform im lebenslangen Lernprozess" (Wikipedia).

Zeitgeschichte im Fokus

Zur damaligen Zeit war das Interesse an der Thematik inzwischen enorm gestiegen, sowohl im allgemeinen (jüdische Enkel fingen an, ihre Großelternteile über den Holocaust zu befragen) als auch im besonderen innerhalb der Holocaust-Forschung, vor allem in den USA, und man rückte jetzt die "anderen Opfern" (the other victims) neben den jüdischen Opfern der Shoah besser ins Licht, was Zeugen Jehovas als NS-Opfergruppe einschloß. Darauf begann ein Mitarbeiter im Writing Department (Redaktion) in Brooklyn N.Y. zu reagieren – James N. Pellechia, der gleichzeiteig für die Public Relation Arbeit (Öffent­lichkeits­arbeit) zuständig war. Er nahm Ende Oktober 1995 mit mir in Deutschland, dem Zusammensteller der Lebens­berichte von Verfolgten für den Watchtower se‪it 1984, telefonisch Kontakt auf – bei meinem Abteilungsaufseher Ramon Templeton traf er vorher auf wenig Resonanz, wie bereits oben angedeutet, abzusehen war. Die Franke-Sammlung für das "Jahrbuch 1974" fiel ohnehin in meinen Bereich als Bibliothekar und Archivar (archivist) der "Schreibabteilung" oder Redaktionsabteilung im Zweigbüro, so dass sie für mich immer frei zugänglich war, auch in der Freizeit, woraus ich bereits bei Recherchen viele Informationen geschöpft und dank des Computers abrufbereit hatte. (Das sollte sich nun als sehr wertvoll und praktisch erweisen!)

Zu der Sammlung gehören die Untergrundberichte zu dem 1938 unter dem Verfassernamen Franz Zürcher veröffentlichten zeitgenössischen Schweizer Verfolgungsbericht und Buch Kreuzzug gegen das Christentum, das wie erwähnt einen bemerkenswerten Kommentar des Nobelpreisträgers Thomas Mann enthält. Er schrieb am 2. August 1938 über die Dokumentation der von den Nationalsozialisten an Zeugen Jehovas (Bibelforscher) verübten Verbrechen (Originalbrief verschollen, vgl. Kommentar oben):

"Ich habe Ihr so schauerlich dokumentiertes Buch mit grösster Ergriffenheit gelesen, und ich kann die Mischung von Verachtung und Abscheu nicht beschreiben, die mich beim Durchblättern dieser Dokumente menschlicher Niedrigkeit und erbärmlicher Grausamkeit erfüllte. [...] Auf jeden Fall haben Sie Ihre Pflicht getan, indem Sie mit diesem Buch vor die Öffentlichkeit traten, und mir scheint, einen stärkeren Appell an das Weltgewissen kann es nicht geben."

Thomas Mann brachte damit 1938 die Brisanz und den Wert der während der NS-Zeit unter Lebensgefahr in die Schweiz gebrachten Verfolgungsberichte der deutschen Bibelforscher oder Zeugen Jehovas auf den Punkt, und nach 60 Jahren waren sie nicht weniger wertvoll und wichtig!


RÜCKBLiCKE, 1989 – 1994

Dem Fall der Berliner Mauer und dem demokratischen Aufbruch in Osteuropa folgte die gesetzliche Anerkennung der Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen nicht nur in der DDR, sondern zum Beispiel auch in Polen, Ungarn (1989) und in weiteren Staaten, was die Aufarbeitung ihrer Verfolgungsgeschichte unter dem Kommunismus und Sozialismus beförderte. Vergleiche die Forschungen von Dr. Liddy Annegret Dirksen (bis zu meinem freiwilligen Weggang eine meiner geschätzten, fleißigen loyalen Mitarbeiterinnen und seinerzeit auf privater Ebene Doktorandin im Fernstudium) und das Standardwerk von Prof. Dr. Hermann Dirksen, während ich mich im Rahmen meiner Möglichkeiten seinerzeit auf eine Facharbeit über Zeugen Jehovas im DDR-Strafvollzug konzentrierte.

Unter Beobachtung

Zuvor, noch während des Kalten Krieges, war eines meiner Anliegen, die gesteuerte perfide Desinformation und "Zersetzung [s.a. in Englisch und den Begriff im MfS-Lexikon]" des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) gegen die Internationale Bibelforscher-Vereinigung und ihre Wachtturm-Gesellschaft, die Glaubensgemeinschaft Jehovas Zeugen, zu entkräften.

Denn durch die Beantwortung von "Leserfragen" und Anfragen aller Art wurde ich auch mit einer in Buchform in hoher Auflage und weit verbreiteten Pseudodokumentation* im Auftrage des MfS gegen die Religionsgemeinschaft des öfteren konfrontiert und musste mich zwangsläufig bei meiner Arbeitszuteilung als Korrespondent damit auseinander setzen.

Waldemar Hirch, Hochschulschrift, 2003 * Der ursprünglich hier verwendete externe Link ist ungültig geworden und die Webseite von Dr. Waldemar Hirch "http://neuegeschichte.de/aufsaetze/erarbeitung-einer-dokumentation-ueber-jehovas-zeugen-als-mfs-auftragswerk" online nicht mehr verfügbar (vgl. web.archive.org, screenshot). Siehe dazu (Foto): Waldemar Hirch, Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas während der SED-Diktatur unter besonderer Berücksichtigung ihrer Observierung und Unterdrückung durch das Ministerium für Staatssicherheit. Frankfurt am Main u.a. 2003, https://d-nb.info/96887651X, dort das Inhaltsverzeichnis (Auszug): IV. 3. 6. "Die Zeugen Jehovas. Eine Dokumentation über die Wachtturmgesellschaft". Entstehungsgeschichte eines speziell für die "Zersetzungsarbeit" geschriebenen Buches. IV. 3. 6. 1. Bewertung der "Dokumentation" aus der Sicht des offiziellen Herausgebers Manfred Gebhard. Das Inhaltsverzeichnis ist auch auf jwhistory.net zu finden.

Das DDR-Buch (Lizenzausgabe 1971 für die BRD) hatten/haben Pfarrer und Priester in Westdeutschland im Bücherregal stehen (was ich selbst beobachten konnte), sicherlich froh etwas gegen die missionierenden, "lästigen" Zeugen Jehovas und ihre agile Wachtturm-Gesellschaft in der Hand zu haben.* Und sicherlich war das MfS-Machwerk in manchen bundesdeutschen Bibliotheken und Schulbüchereien vorzufinden, vielleicht noch heute (was zu überprüfen wäre [so schrieb ich ursprünglich vor Jahren hier und nehme an, dass dies heute nicht mehr der Fall sein wird!?]).

* Das habe ich jetzt etwas überspitzt formuliert, um das Ausmaß der bösen "zersetzenden" Wirkung des sozialistischen DDR-Buches unter Menschen in der Bundesrepublik Deutschland aufzuzeigen und manche Vorurteile befeuerte, was mich damals ziemlich "gewurmt" hat. Im Laufe der Jahre traf ich natürlich objektive Geistliche und Mönche, die mit Respekt über die Rolle der Zeugen Jehovas während der NS-Diktatur und über ihren Missionseifer im allgemeinen gesprochen haben (das haben auch schon Päpste in Rom über die Zeugen zum Ausdruck gebracht). Und 1942 und 1945, während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, gibt es öffentliche lobende Äußerungen von Pastor Martin Niemöller (1890–1961) von der EKD und im Namen der Evangelischen Kirche in Deutschland über die Neutralität und das mutige(re) Bekenntnis der Bibelforscher oder Zeugen Jehovas während des Nationalsozialismus. Der Pastor wohnte übrigens in Dahlem in der Nähe meines West-Berliner Wohnsitzes und hatte in dem nicht weit entfernten Kirchlein von Schmargendorf gepredigt. Dazu gelegentlich mehr; hier vorab ein Zitat von Niemöller:

"Christen von heute stehen beschämt da vor einer sogenannten Sekte wie der der ernsten Bibelforscher, die zu Hun­derten und Tausenden ins Konzentrationslager und in den Tod gegangen sind, weil sie den Kriegsdiest ablehnten und sich weigerten, auf Menschen zu schießen. Hier sollte es uns klar werden, wie an vielem anderen, daß wir, die Kirche und die Christen, heute zur Buße, zur Sinnesänderung aufgerufen sind, wenn wir weiterhin Gottes Wort verkündigen und Gottes Sache vertreten sollen!" (Ach Gott vom Himmel sieh darein: Sechs Predigten von Martin Niemöller, München 1946, zitiert nach Prof. Harold Marcuse, marcuse.faculty.history.ucsb.edu).

Seinerzeit war ein erklärtes MfS-Ziel, die in der DDR verbotene und verfolgte Religionsgemeinschaft (und ihre Leiter, zB Erich Frost [s.a. in Engl.], vgl. Literatur Dirksen, Hirch, Yonan) zu diskreditieren, zu schwächen oder zu vernichten, zumindest Leser zu verunsichern und Zweifel zu säen ("Zersetzung"). Schon den Nationalsozialisten und jetzt den Kommunisten wurde die Internationale Bibelforscher-Vereinigung/Jehovas Zeugen/Wachtturm-Gesellschaft wegen ihrer Internationalität, ihrem Hauptbüro in Amerika und ihrer politischen Neutralität und Nichtanpassung zum Hass-, Feind- und Verfolgungsobjekt.

Bei der Herausgabe der oben genannten Pseudodokumentation des MfS (Buch) hatte ein gewisser Stasi-Mitarbeiter aus Überzeugung (ehemaliger Zeuge Jehovas) und sein Name eine Rolle gespielt, dabei hatten die Autoren offenkundig Zugriff beim MfS zu internen Dokumentensammlungen und Gestapo-Verhörprotokollen gehabt (Abbildungen im Buch ohne Herkunftsangaben) und sie einseitig interpretiert, um von der Gestapo gefolterte leitende Zeugen Jehovas (im Untergrund­werk) als "Verräter" zu diskreditieren (während deren Integrität, zB von Erich Frost, während der KZ-Haft und danach unter den aktiven bzw. loyalen Zeugen Jehovas stets unbestritten gewesen war).

In Anbetracht der sozialistischen Ausdrucksweise und Diktion des Buches bemerkten oder ahnten manche DDR-Bürger beim Blättern darin sicherlich bald den Stasi-Hintergrund, doch im Westen war das offensichtlich anders und man nahm manche Sichtweise im Buch unbekümmert und meist ohne zu hinterfragen an, zum Beispiel über die angebliche "Anbie­derung" der "WTG" (Wachtturm-Gesellschaft) an Hitler auf dem Sonderkongreß in Berlin-Wilmersdorf am 25. Juni 1933. Das Gegenteil war damals 1933 der Fall gewesen! Die Berliner Petition an die Reichsregierung, die von den anwesenden Kongreßdelegierten als Repräsentanten aus dem ganzen Reich angenommen wurde, war aus dem Englischen übersetzt worden (der Text stammte von Watchtower-Präsident Rutherford in Brooklyn N.Y., erschien später im englischen und deutschen Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1933 und war von seiner Diktion her biblisch-religiös und juristisch, nicht politisch formuliert), der erste Schritt der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung/Jehovas Zeugen in ihrem Kampf für Religionsfreiheit und gegen ihre Betätigungsverbote in Deutschland.*

* Danach, als die Verbote und Verfolgungen in Deutschland nicht aufhörten, und in den folgenden Jahren, sollten eine weltweite Protest-Telegrammwelle an die Reichskanzlei, zwei spektakuläre Flugblattaktionen aus dem Untergrund heraus organisiert und 1938 schließlich eine Verfolgungsdokumentation mit dem Schweizer Buch Kreuzzug gegen das Christentum in Deutsch und Polnisch veröffentlicht und verbreitet werden.

Und selbst nach der Wende und friedlichen Revolution in der DDR, vielleicht zur Rechtfertigung oder aus Gewohnheit, wurde Berufskritiker und die Zeugen-Jehovas-Opposition nicht müde, sich weiter "aufklärerisch" über bekannte Bibel­forscher (Zeugen Jehovas), dabei quasi "voyeuristisch" und mit Häme, auf Webseiten und Foren öffentlich zu artikulieren, wobei Geschwätz, Halb- und Unwahrheiten auch über mich, Johannes Wrobel, kolportiert werden (und mir geschadet haben, vgl. Einführung) – einen (angeblichen) "Funktionär" der Wachtturm-Gesellschaft. Den "Kritikern", die erbittert (und verbittert) gegen die Zeugen Jehovas digital und analog ankämpften, und sich nicht scheuen, dabei die Intim- und Privatsphäre ihrer "Beobachtungsopfer" zu missachten, sollte man meiner Meinung nach nicht auf den Leim gehen und kann ihre "Aufklärung" getrost ignorieren. (Siehe zur Gesamtthematik der MfS-Desinformation gegen die Wachtturm-Gesellschaft die unten erwähnten Forschungsarbeiten von Dr. Waldemar Hirch; vgl. ganz allgemein Stasi-Unterlagen und weiterführende Links & Quellen; www.stasi-museum.de; www.stasi-unterlagen-archiv.de).

Sicherlich wurde ich aufgrund meiner Arbeit, Art und Kenntnisse von vielen innerhalb und außerhalb der Wachtturm-Gesellschaft geachtet und geschätzt, doch war ich ohne Führungs- oder Entscheidungsposition innerhalb der Organisation und hatte lediglich Anfang 1996 das "Geschichtsarchiv" ins Leben gerufen, dessen Abteilungsleiter ich zwangsläufig wurde, wobei ich übrigens sehr viel Forschungsarbeit über die Geschichte der Gesellschaft und die Verfolgung ihrer Mitglieder unter beiden deutschen Diktaturen privat und in meiner Freizeit leistete.

Bereits ab 1980 hatte ich zwei "Leserbriefe" (privat) in externen Zeitschriften unter meinem Namen veröffentlicht. Mit der Zeit ergab es sich, daß angefragte und von mir verfasste Fachaufsätze zur staatlichen Verfolgung der Opfergruppe im Nationalsozialismus von den Herausgebern wie allgemein üblich namentlich gekennzeichnet veröffentlicht wurden. Hinzu kamen Beiträge in externen Lexika (ab 1993). Dazu sollte auch ein Beitrag im Marienlexikon, herausgegeben von den beiden Theologieprofessoren Dr. Remigius Bäumer und Dr. Leo Scheffczyk im Auftrag des Institutum Marianum Ratisbonense gehören (1994).*

* Der Herausgeber hatte um einen Text über Maria angefragt, dessen Beantwortung in meine Zuständigkeit fiel und den ich in gewohnter Weise brieflich und anonym, also mit meinem Sachbearbeiterkennzeichen "EC" beantwortete. Da der Wachtturm-Briefkopf meine Durchwahl angab (nach der Verleihung der Körperschaftsrechte änderte man den Briefkopf auf "Jehovas Zeugen Deutschland"), rief mich einer der Herausgeber unerwartet an, fragte kurz und bündig nach meinem Namen (womit das Gespräch schon beendet war) und setzte ihn später unter meinen Text im Lexikon; auf die Idee, statt dessen den Namen eines Vorstandsmitglieds der Wachtturm-Gesellschaft als "Verfasser" anzugeben, wie das oft praktiziert wird, kam ich bei dem Blitzgespräch nicht. (Originalaufsatz, Foto; Herausgeber und Download.)

Viele Veröffentlichungen erfolgten unter meinem Vornamen "Johannes" bzw. wie ebenso im Englischen üblich unter "Johannes S." (ursprünglich "Johann Stephan"; das Ordnungsamt Wiesbaden beurkundete am 29. April 1983 die Änderung meiner Vornamen auf "Johannes Stephan". (Falls es jemand interessiert, siehe meinen ausführlichen Kommentar zu den Vornamen oben.)

Namentlich mit "Johannes Wrobel" oder "Johannes S. Wrobel" (Johannes Stephan Wrobel) gekennzeichnete Veröffentlichungen sind also in der Regel privater Natur, während durch die Wachtturm-Gesellschaft bzw. inzwischen "Jehovas Zeugen Deutschland K.d.ö.R." in der Regel anonym und damit in ihrem Namen veröffentlicht wird. (Diesen Unterschied hat die digitale Zeugen-Jehovas-Opposition nicht geblickt und selbst meine privaten Webseiten unter "Johannes Wrobel" der Wachtturm-Gesellschaft angedichtet. Einmal wollte ich damals eine hilfsbedürftige Witwe unterstützen, ihre Eigentumswohnung zu verkaufen und stellte eine Anzeige auf meiner privaten Webseite online – prompt veröffentlichte die deutsche Zeugen-Jehovas-Opposition diese Privatangelegenheit in Horch-und-Guck-Mentalität jahrelang im Internet,* eventuell noch heute – keine Lust nachzuschauen. ☺)

* Einschätzungen ergeben sich vielleicht auch [so schrieb ich hier vor Jahren] aus Online-Reaktionen in Deutschland und den USA aus der Gemeinde der Zeugen-Jehovas-Opposition auf meine Webseite mit der neuen literarischen Autobiografie – denn ihre "Beobachtungen" werden aus dem Deutschen ins Englische und Spanische übersetzt und dann in ihren Internet-Foren verbreitet. Welch eine Mühe ... Meine neue "alte" Webseite hatte bald nach ihrem Start zunächst täglich zwischen fünf bis zehn Internet-Besucher. Dann, am 25.08.2016 schnellte die Besucherzahl (keine Doppelzählungen) an einem einzigen Tag auf 120 Besucher hoch. An den zwei folgenden Tagen auf 40 User, dann auf 90 Zugriffe am 28.08.2016, schließlich auf rund 15 bis 20 Besucher täglich. Inzwischen hat sich die Besucherzahl wieder "normalisiert" wie am Anfang. (Dubiose Kontaktversuche von Unbekannten sind bereits [damals] bei mir erfolgt. Ich halte alle, die das interessieren sollte, ggf. hier auf dem Laufenden. [So schrieb ich hier wie oben erwähnt vor Jahren, inzwischen, denke ich, das ist Schnee von gestern; sicherlich bin ich auch nicht mehr "unter Beobachtung" ... ☺ Doch das interessiert mich nicht wirklich.])

Ein Standardwerk und viele Privatforscher

Es war ein Außenstehender, also kein Zeuge Jehovas, der 1993 das umfassendste Standardwerk zur Thematik veröffentlichte, das es gibt: Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im "Dritten Reich" von dem Historiker (und inzwischen zum Professor in Hamburg berufenen) Dr. Detlef Garbe, dem (einstigen) Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme (1989 bis 2019) und Lehrbeauftragten für Zeitgeschichte an der Universität Hamburg, inzwischen in der 4. überarbeiteten Auflage erschienen, zum Beispiel wird der angebliche "Anbiederungsversuch" 1933 an Kanzler Hitler, in Wirklichkeit ein Stasi-Konstrukt (siehe oben) als nicht mehr haltbar erklärt.

Das akribische gigantische akademische Werk von Dr. Detlef Garbe über diese "vergessenen Opfer" entstand praktisch unabhängig von der Wachtturm-Gesellschaft, die sich für solche Projekte (noch) nicht öffnen konnte. (Sicherlich auch dank einiger der Lebensberichte, die durch Konrad Franke von Verfolgten für die Erstellung des "Jahrbuchs 1974" erbeten worden waren und sich vielfach zur Sicherheit als Kopien oder Abschriften im Land vorfinden. Vgl. Kommentar oben.) Die Zusammenarbeit mit Historikern (und die Beantwortung ihrer Anfragen) entstand bei uns in der Redaktionsabteilung erst ab 1994 und dann vor allem durch das neu gegründete "Geschichtsarchiv" ab 1996 – ab diesem Zeitpunkt war meine Abteilung im Haus überhaupt in der Lage, zeithistorische Fachanfragen von Außenstehenden (Studenten, Historikern, Museen und Gedenkstätten) befriedigend oder verwertbar zu beantworten, da wir systematisch Opferlisten anfertigten und eine Archivsammlung anlegten. (Vgl. den Aufsatz von Ingrid Schupetta: "Die Verfolgung festhalten und der Öffentlichkeit mitteilen." Das Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas in Selters/Taunus, in: Merländer-Brief, Veröffentlichung des Villa Merländer e.V. - Förderverein der NS-Dokumentationsstelle Krefeld, Nr. 11, Juli 2004, S. 4.) Die Zusammenarbeit mit Dr. Detlef Garbe, an die ich gern zurückdenke, war in den folgenden Jahren sehr gut, und einige Informationen flossen in verbesserte Auflagen seines Werkes ein, wie oben erwähnt.

Mein Team und ich konnten ab 1996 alle Historiker und Studenten, die bei uns nach Material zur Verfolgung der Glaubensgemeinschaft im "Dritten Reich" anfragten nach besten Kräften unterstützten. Davon zeugen zahlreiche veröffentliche Danksagungen und in Form von Emails, die ich erhalten habe, was mich sehr gefreut hat.*

* Historiker und Oral History-Experte Alexander von Plato (Hagen) schreibt: "Die Adresse von Kasimir Jurcryk hatten wir [mit Dr. Alice von Plato hatte ich direkten Kontakt] von der Zentrale der Zeugen Jehovas in Selters, genauer von Johannes Wrobel bekommen [2002], mit dem wir bereits mehrmals zusammengearbeitet hatten. Herr Jurcryk hatte nur wegen der dringenden Aufforderung von Johannes Wrobel einem Interview zugestimmt, weil er sich nicht mit der Vergangenheit belasten wollte" (Alexander von Plato: Wege deutscher Häftlinge in das KZ Mauthausen, in: Alexander Prenninger (Hg.), Regina Fritz, Gerhard Botz, Melanie Dejnega: Deportiert nach Maut­hausen. Europa in Mauthausen, Bd. 2. Wien 2021, S. 41, 42, Online-Ausgabe; http://d-nb.info/1215218087, mit Inhaltsverzeichnis).

Im Laufe der Zeit hatte ich Kontakte mit etlichen Privat- und Familienforschern zur NS-Verfolgung, deren Aktivitäten ich nun ebenfalls fördern oder ermutigen konnte. Einige hatten die Initiative der Aufarbeitung bereits selbst ergriffen.

Dazu gehört der US-Amerikaner Robert Buckley (ab Herbst 1987), der in der Nähe von Washington D.C. wohnte mit Buckley, 2006, USHMM und bereits seit 1985 als Watchtower-Presse­beauftragter vor Ort engagiert und schließlich selb­ständig die vakante Aufgabe übernahm, viele Jahre für das dortige United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) er­staunlich zahl­reiche Verfolgungs­berichte von Glaubens­brüdern mittels Video-Interviews zu sam­meln, ebenso Artefakte, wie KZ-Häftlings­kleidung, und dem Museum zu übergeben. Great Job, Robert! (im Foto links von mir, in Washington D.C., Oktober 2006, Amateuraufnahme).*

* Als ich Robert Buckley vor vielen Jahren das letzte mal in Washington D.C. sah, gab er mir folgenden Fitness-Rat mit auf den Lebens­weg: 'Jeden Tag Gymnastik und viel Wasser trinken!' Mein Hausarzt in Freilassing rät mir: 'Sich viel bewegen, wenig essen!' Ok, über Gesundheits- und Fitnessfragen vielleicht später einmal mehr hier ... ☺ [inzwischen habe ich diese Idee verworfen, habe genug allein damit zu tun, die vielen regulären Themen und Rubriken meiner diversen Webseiten zu bearbeiten, auch diese hier nach langer Zeit endlich fertig gestellt zu bekommen ...]

In Deutschland war es Berthold Mehm, der später die Verfolgungsgeschichte seines Hildesheimer Großvaters selbständig aufgearbeitet und zusammen mit Werner Rieger veröffentlicht hat. Oder Karlo Vegelahn, der akribisch geschichtliche Quellen und Informationen online auflistet, auch Biografien von Verfolgten, ähnlich wie Historiker Timon Jakli in Österreich.

In Österreich ist es des weiteren Bernhard Rammerstorfer, den ich ebenfalls kennenlernte und der sich unabhängig und auf eigene Kosten um die Aufzeichnung und mediale Vermittlung der sehr bemerkenswerten Verfolgungsgeschichte von Leopld Engleitner (1904–2013) aufopferungsvoll kümmert. (Dr. Angela Merkel, kurz darauf deutsche Bundeskanzlerin, ließ es sich 2005 nicht nehmen, sich zusammen mit dem über hundert­jährigen KZ-Überlebenden Engleitner aus Österreich anlässlich des Gedenk­tages zur Befreiung des KZ Buchenwald fotografieren zu lassen. Einige Jahre zuvor, im Juni 1997, durfte ich Leopold Engleitner, siehe unten, in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen interviewen; er verstarb 2013 mit 107 Jahren.*)

* Bei einem kürzlichen Besuch in Wien stellte ich fest, dass er seit 2014 am Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz, das sich gegenüber dem Bundes­kanzleramt an der Wiener Hofburg befindet, wie folgt zitiert wird: "'Wir wurden als die ärgsten Staatsfeinde hingestellt. Jeder andere war besser als wir.' Leopold Engleitner (1905-2013), Zeuge Jehovas, Kriegs­dienstverweigerer." Fotos dazu finden sich auf einer meiner Facebook-Profile.

Viele weitere Zeugen Jehovas beteiligten sich privat und in lobenswerter Weise an der Geschichtsaufarbeitung an verschiedenen Orten, zum Beispiel in Frankfurt am Main, München, Münster und Schleswig-Holstein. Auch in anderen Ländern, wie in Österreich (worauf noch weiter einzugehen wäre).


RÜCKBLiCKE, 1995

Im November und Dezember 1995 erfolgte die Unterstützung (Logistik) und persönliche Begleitung eines amerikanischen Videoteams durch Deutschland (unter der Leitung von James N. Pellechia von der Redaktionsabteilung im Watchtower-Hauptbüro, damals noch in Brooklyn, N.Y.), das Interviews mit Verfolgten während des NS-Regimes und Bilder von historischen Verfolgungsstätten, wie auf den KZ-Gedenkstätten Ravensbrück, Sachsenhausen und Wewelsburg, aufzeichnete.

Zeitzeugen sollen die Öffentlichkeit informieren

Bereits drei Jahre zuvor, am 25. und 26. September 1992, hatte "Video Services Brooklyn" durch das Ehepaar Zahari aus dem US-Hauptbüro vor laufender Kamera Interviews mit einer Anzahl Zeitzeugen in Selters/Taunus durchführen lassen, wobei ich jeweils die Fragen zu deren persönlichen Verfolgung und zu der ihrer Angehörigen unter dem Nationalsozialismus stellen durfte. Zeitzeugen-Interviews, 1992 Das Foto zeigt von links, obere Reihe: Carl und Naomi Zahari (Kamera und Licht/Ton), Johannes Neubacher, Ernst Wauer, Heinrich Dickmann, Johannes S. Wrobel (Interviewer); untere Reihe: Maria Hombach, Elfriede Löhr, Änne Dickmann und Gertrud Pötzinger.

Das Projekt hatte ich auf Anfrage aus Brooklyn logistisch gründlich vorbereitet und begleitete nun das Ehepaar zu weiteren Film­aufnahmen "auf Vorrat" aus thema­tischen Gründen. Dazu gehörte die Gutenberg-Presse im Gutenberg-Museum in Mainz (Thema "Bibeldruck"), das Reformations­denkmal in Worms und am 29. Dezember 1992 ein Besuch in der Gedenkstätte Buchenwald, dem ehemaligen Konzentrationslager bei Weimar, Aussenaufnahmen an der Wartburg sowie auf der Rückreise Aussen­aufnahmen der historischen Wartburg über der thüringischen Stadt Eisenach zum Thema "Martin Luther" (Foto).

Die Interviews wurden jetzt, 1995, mit weiteren Zeitzeugen als einst Verfolgte fortgesetzt, teilweise wiederholt – Grund war ein konkretes Video­filmprojekt über die NS-Verfolgungszeit, das für eine weltweite Veröffentlichung bestimmt war.

Mit James N. Pellechia (und später mit Judah-Ben Schröder am 19. Februar 1996 im Hauptbüro in Brooklyn) kann ich anlässlich unserer gemeinsamen Reisen durch Deutschland im Winter 1995 erstmals über ein mögliches künftiges Konzept mittels Information/Dokumentation (ohne religiöse Belehrung) und der Vorstellung während des NS-Regimes verfolgter Zeitzeugen für eine zeit­geschichtliche (moderate) Öffentlich­keitsarbeit sprechen.

Bei meiner Anregung ging es um die Arbeitslogik und Methodik, wie sie bereits von dem vorhandenen "Krankenhaus­informationsdienst" der Zeugen Jehovas, dessen Einführung ich vom 23. bis 25. November 1990 im Kongress-Saal der Zeugen Jehovas in Meckenheim durch Referenten aus dem Writing Department aus Brooklyn, N.Y. sehr beeindruckt miterlebt hatte, praktiziert wurde – also mit Information und nicht Verkündigung an die Öffentlichkeit zu treten (auch Fachartikel, z.B. über medizinische Behandlungen ohne Blut oder zur blutlosen Chirurgie zu generieren).

Ich meinte damals die internen Spielregeln, wie wir sie in der Redaktion oder Schreibabteilung beim Verfassen von informativen Artikeln für Awake! / Erwachet! bereits kannten und jahrelang praktiziert hatten. (Anders die Artikel im Watchtower / Wachtturm, die tatsächlich durchweg der religiösen Belehrung dienen.)

James N. Pellechia, der im Hauptbüro neben seiner Redaktionsarbeit im Writing Department auch für "Presse und Nachrichten" zuständig ist, nimmt die Anregung sehr interessiert auf. Er überlegte bereits selbst wie oben erwähnt, wie die Organisation auf das wachsende öffentliche Bedürfnis, vor allem von Museen und Gedenkstätten in den USA und Deutsch­land, Informationen über die NS-Opfergruppe der Zeugen Jehovas (Bibelforscher) zu erhalten, effizient reagieren sollte.

Und dabei spielte Deutschland (und Österreich) eine Schlüsselrolle – von dessen Boden 1933–1945 durch Adolf Hitler und seinem Staatsapparat, seiner Polizei, seinen zivilen Behörden und hörigen Bürgern die heftige, blutige und vielfach tödliche staatliche Verfolgung der "Bibelforscher" oder Zeugen Jehovas (und von allen anderen Anders­denkenden und scheinbar "Anders­artigen" – eine Lüge) ausgegangen war, das war uns beiden klar. Und Merkmale von Rassismus, Fremden­feind­lichkeit und Intoleranz waren vielerorts in der Gegenwart zu beobachten – es war an der Zeit, an die braune intolerante Vergangenheit und ihre schrecklichen Folgen zu erinnern!

James N. Pellechia schwebte neben der geschichts­spezifischen "Public Relation"-Arbeit sogar ein "Lila Winkel"-Verfolgten-Museum in Berlin vor (für das wir im "Geschichtsarchiv" folgerichtig hätten ebenfalls zuständig sein sollen) – das alles hätte unsere zeitlichen (ebenso meine gesund­heitlichen) Möglichkeiten im "Geschichtsarchiv" überzogen.

Bei den Gesprächen mit den beiden Schlüssel­personen im Hauptbüro hatte ich tatsächlich eine neue Abteilung im Sinn gehabt (habe erst kürzlich die Notizen dazu gefunden, daher die Korrektur), um meinen Geschichtsbereich (und meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ohnehin durch die laufende Archivarbeiten und Recherchen für externe Anfrage etwas überlastet waren; hinzu kam eine zeitlang das NS-Opfer-Entschä­digungsprogramm aus den USA, das unter Zeitdruck erledigt werden musste – mehr darüber in "Teil II") und meine eigene Forschungs- und Schreibarbeit für angefragte Projekte auf der Basis der zahlreichen Verfolgten­unterlagen im "Geschichtsarchiv" zu entlasten.

Ich wollte gern weiter Fachartikel zur NS-Verfolgung (hinzu kamen die Opfer das SED-Regimes der DDR) für externe Publikationen verfassen (also die Verfolgungsgeschichte der Religionsgemeinschaft in beiden deutschen Diktaturen bearbeiten, wobei ebenso ihre Wehrdienst­verweigerer in der Bundesrepublik Deuschland geschichtlich von Interesse waren) und nicht durch eine zusätzliche Öffentlichkeitsarbeit zeitlich eingeschränkt werden. (Denn ich "befürchtete", dass mich sonst das Hauptbüro für die allgemeine Öffentlich­keitsarbeit in Deutschland und vielleicht noch zusätzlich anderswo empfohlen hätte, sicherlich ein Grund, warum ich später mit James N. Pellechia zum Beispiel in Moskau und St. Petersbrug war.) Natürlich wollten wir/ich im "Geschichtsarchiv" angesichts der Berge von Unerledigtem weiter Opferdaten erfassen und Fach­bezogenes recherchieren und verschriftlichen, zum Beispiel Auskünfte auf Anfragen erteilen, Zeitungsartikel oder kleinere Ausstellungen über Verfolgte mit Regionalbezug unterstützen, doch nicht die PR-Arbeit in Deutschland insgesamt oder auch nur teilweise übernehmen.

Als ich im April 1996 zurück aus Brooklyn gekommen war, hatte inzwischen das Watchtower-Zweig­büro in Selters/Taunus die vom Hauptbüro angeregte Abteilung für Öffentlich­keits­arbeit gegründet, wobei ich außen vor blieb, was mir grund­sätzlich sehr recht war aus den erwähnten Gründen. (Doch zumindest eine zeitlich befristete beratende Funktion hätte ich mir dann doch gewünscht als die Öffent­lichkeits­arbeit später unerwartete Ausmaße annahm und mit der Zeit eine eigene Dynamik entwickelte. Dass bis dahin beachtete Grenzen durch Dritte quasi aufweichten hat meines Erachtens sicherlich mit zum Nieder­gang dieser wertvollen und notwendigen öffentlichen Arbeit, einschließlich des "Geschichts­archivs", beigetragen.*)

* Allerdings war ich zwar zu dieser Zeit ein seit vielen Jahren geübter anonymer Verfasser (der isoliert und vertraulich arbeiten und niemals über seine Arbeit zu Dritten sprechen sollte; selbst der natürliche Gebrauch des Wörtchens "ich" war verpönt und konnte zu einer uner­wünschten Beurteilung der Person führen). Doch war ich damals leider noch nicht so weit im zwischen­menschlichen Bereich fortgeschritten, mich unter vier Augen, geschweige in einer Gruppe, richtig und überzeugend artikulieren zu können (mit der Ausnahme bei einer plötzlich eintretenen Fokussierung, wie ich hier in "Teil II" berichte, hinzu kommt in der Regel ein Defizit in der "Aufmerksameit", wie es heißt). Das verbal Vorgetragene blieb meist Stückwerk. Was meiner Meinung nach aus heutiger Sicht mit einer angeborenen, bisher unerkannten Hoch­sensibilität zuammenhängen wird. Nach meinem Weggang 2008 erfuhr ich dann durch neue Lebens­umstände (viele Unterhaltungen) eine vollständige Wandlung oder kann seitdem diese Handicaps ziemlich kompensieren, also mich auch verbal relativ gut ausdrücken, sofern ich nicht unter Druck gesetzt werde, und durch die Methode "Was man schreibt, das bleibt!". Damals blieb ich stumm oder zog es lieber vor, Gedanken in schriftlicher Form zu übermitteln (teilweise noch heute; so telefoniere ich nicht gerade gern, schreibe lieber eine Mail ... ☺)

RÜCKBLiCKE, 1996

Anfang Januar 1996 Flug nach New York City, wo ich bis März leben und arbeiten sollte.

Eine Filmdokumentation nimmt Gestalt an

Nun folgt eine intensive Redaktionsarbeit im damaligen Watch Tower Hauptbüro in Brooklyn Heights am Script und Schnitt der Videoaufnahmen in Zusammenarbeit mit dem Videoteam, die im November und Dezember 1995 in Deutschland aufgenommen worden waren, zu einer in sich schlüssigen Videodokumentation (Foto: Das "Stand Firm"-Videoteam in Brooklyn, von links die Redaktion mit James N. Pellechia, Johannes S. Wrobel und Jolene Chu sowie Carl Zahari für die Videotechnik). Stand Firm video team

Der Videofilm erhält den Titel Jehovah's Witnesses Stand Firm Against Nazi Assault sowie in Deutsch Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime und wird bald in vielen Sprachen und Ländern zur Verfügung stehen und vielerorts öffentlich mit guter Resonanz vorgeführt werden.

Für das Videoprojekt beziehe ich ein eigenes Büro im 8. Stockwerk gegenüber von Columbia Heights 25 Watchtower buildings, Brooklyn N.Y. (part) (das westl. Gebäude vom Writing Department; im Foto, auf der Ansichtskarte, die ich bei einem früheren Aufenthalt von dort, im Mai 1993, meinen Eltern in Berlin gesandt hatte, das linke weiße Gebäude; 1993 hatte ich im rechten weißen Gebäude ein Büro, das auf der Postkarte eingekreist ist). Der Blick aus meinem Bürofenster geht diesmal zur Skyline von Lower Manhattan mit den Zwillingstürmen des (damaligen) World Trade Centers (WTC), auf die höchsten Gebäude der Millionenstadt – der Nordturm war eine Weile das höchste Gebäude der Erde. Besuchte einmal auf dem 107. Stockwerk des Südturms die innere Aussichtsplattform – ein phantastischer Ausblick für Schwindelfreie! Man schaute von dort oben wie aus einem Düsenflugzeug am Himmel tief herab auf eine unglaublich kleine Erdenwelt – auf Hafenanlagen, East River mit Brooklyn Bridge und Manhattan Bridge (die in der Ansichtskarte oben im Hintergrund zu sehen sind) und über das winzigklein wirkende Häusermeer von Brooklyn. (Übrigens, die berühmte altehrwürdige Brooklyn Bridge, 1883 die längste Hängebrücke der Welt, habe ich während meines Aufenthalts mehrmals als Spaziergänger und auch als Jogger überquert. Mit stetem Blick auf die Piers des East Rivers. Diese Eindrücke bleiben unvergeßlich!)

Die unfassbare Katastrophe und der Einsturz der Türme des WTC am 11. September 2001 haben die Welt verändert! Auch dieser Tag ist unvergessen. (James N. Pellechia musste aus seinem Büro im 8. Stockwerk auf der gegenüberliegende Seite mit ansehen, wie die Türme brannten und hielt mich per Email auf dem laufenden, und plötzlich war das schreckliche Ereignis so nah!)

Die Videodoku und die Öffentlichkeit

Die Film- und Videodokumentation Jehovah's Witnesses Stand Firm Against Nazi Assault / Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime lässt vor allem Zeitzeugen und Historiker zu Wort kommen und zeigt quasi im Zeitraffer die im Titel genannte Haltung der Zeugen Jehovas (Bibelforscher) und ihre staatliche Verfolgung. (Vgl. dazu die Chronik im späteren Begleitheft zu den kommenden "Standhaft"-Ausstellungen, die ich ebenfalls anonym verfassen durfte; das sehe ich noch heute als große Vorrechte an, die ich sehr geschätzt habe.)

Nach einer kurzen Einführung beginnt der Videofilm mit der "Machtübernahme" Adolf Hitlers (1889–1945) am 30. Januar 1933 und dem Versuch der Zeugen Jehovas (Bibelforscher) nach fünf Monaten durch eine landesweit zu verbreitende durchaus respektvolle, religiöse "Erklärung" (Flugblatt, engl. Declaration of Facts) am 25. Juni 1933 den deutschen Staat (Reichsregierung) und seine Behörden auf ihre religiöse, unpolitische Haltung hinzuweisen und ihr Recht auf freie Religi­ons­ausübung, das bereits beschnitten ist, einzufordern. Vergeblich! Nach einer Protest-Aktion der Zeugen Jehovas am 7. Ok­tober 1934 tobt Diktator Adolf Hitler und schwört, 'diese Brut in Deutschland auszurotten'.

Das Video zeigt die schrittweise Entrechtung und staatliche Verfolgung der Bibelforscher oder Zeugen Jehovas (aufgrund ihrer kompromisslosen Nichtanpassung an den Nationalsozialismus) von 1933 an, zum Beispiel durch Arbeitsplatzverlust, Entzug der Kinder, Verhaftungen und Drangsalierungen in den Konzentrationslagern, Gefängnissen und Zuchthäusern sowie die Ermordung vieler; dann den Kriegsbeginn (1939) und die Eskalation durch ihre Kriegsdienstverweigerung (Hinrich­tungen), die Unbeugsamkeit im Untergrund, schließlich den Niedergang des Reiches, die "Todesmärsche" der KZ-Häftlinge und dann die Befreiung bei Kriegsende (1945).

Der "Standhaft"-Videofilm verdeutlicht, wie Intoleranz, Rassismus und Ideologisierung zu Staatsverbrechen und kriminelle Handlungen durch "normale" (und verblendete) Menschen führen können – und das in Kulturländern wie Deutschland und Österreich. (Der geschichtliche und gleichzeitig pädagogisch wertvolle Stoff des Videos sollte daher bald nicht nur in Gedenkstätten und Museen, sondern auch in Schulen und Bildungseinrichtungen in den USA, Deutschland, Großbritannien, Österreich, Schweden und anderen Staaten großes Interesse finden.)

Aufgrund des beeindruckenden Interviewmaterials fällt der Videofilm länger als ursprünglich vorgesehen aus. Er ist so konzipiert, daß sowohl Glaubensangehörige als auch Außen­stehende daraus Nutzen ziehen können. (Mein doppeltes Konzept beim Bearbeiten des Scripts war, durch Fakten und historische Information das Anschauen sowohl für Aussen­stehende als auch für Angehörige der Gemeinschaft zu einem lohnenden Erlebnis zu machen: "Inform the public, encourage the friends.")

Bereits während der Dreharbeiten in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück (ehemaliges Konzentrationslager für Frauen in Fürstenberg/Havel) hatte die damalige Leiterin Frau Prof. Dr. Sigrid Jacobeit James N. Pellechia und mich gefragt, ob eine Premiere geplant sei, und als wir zögerten hinzugefügt, "Kommen Sie doch zu uns!". Ihre Einladung war mein größter Ansporn, den Videofilm für Außenstehende informativ und verständlich zu gestalten, nicht einmal unterschwellig als "religiöse Verkündigung" aufzuziehen. Damit sollte in überraschender Weise gleichzeitig ein Werkzeug für die kommende (Gedenk- und) Öffentlich­keitsarbeit entstehen, die bislang ungekannte Ausmaße für Jehovas Zeugen (und die Öffent­lichkeit) in mehreren Ländern erreichen sollte!

In die Zeit nach meiner Rückkehr aus New York City, im April 1996, setze ich die Gründung des "Geschichtsarchivs" der Zeugen Jehovas (Bibelforscher) in Deutschland an (ähnliche Archive sollten in Österreich und anderen Ländern folgen). Die Wachtturm-Gesellschaft/Jehovas Zeugen (zuständig im Vorstand/Zweigkomitee Werner Rudtke) stattet die neue Abteilung bald großzügig mit neuen Räumen und Mobiliar aus. (Die Archiv-Leitung habe ich bis November 2008 inne, danach bin ich freiwillig ausgeschieden, und die Geschichtsarbeit wird an vielen Orten zurückgefahren oder eingestellt. Darüber mehr in Teil II der "Rückblicke", der sich ebenfalls in der Überarbeitung befindet.)

Gruppenreise nach Emmen (Niederlande), wo in den Studios des dortigen Watchtower-Zweigbüros der Zeugen Jehovas die deutsche Synchronisierung des Videofilms vorgenommen wird (Mai 1996). Im Vorfeld wähle ich passende Stimmen aus, da nicht alle Interviewten im Video in Deutsch berichten. Wir bildeten eine Reisegruppe von Teilnehmern an dem Projekt.

Die Uraufführung, eine "Weltpremiere"

Planung und Durchführung der Welturaufführung der deutschen Film- und Videodokumentation Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime (stellvertretend für die zeitgleiche englische und alle kommenden Versionen in vielen Sprachen) an der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück (Fürstenberg/Havel) am 6. November 1996 (zusammen mit Interviews von Historikern und Zeitzeugen sowie einer Ausstellung zum Thema), zu dem die Leiterin, wie oben erwähnt, James N. Pellechia und mich bereits bei den Filmaufnahmen dort eingeladen hatte

Am Vormittag findet eine professionelle Frühstücks-Pressekonferenz im Sorat-Hotel in Berlin-Tegel statt (arrangiert von Bernd Proske, Rosenheim), zu der Medienvertreter relativ zahlreich erscheinen.

Danach machen wir uns auf den Weg nach Ravensbrück in Fürstenberg/Havel, wo die geladenen und anwesenden Gäste, Zeitzeugen, Historiker, Medienvertreter und Abgesandte von Ministerien (aus ganz Deutschland, einige aus dem Ausland) bereits in einem großen, eigens von uns dafür festlich hergerichteten Saal neben der KZ-Gedenkstätte gespannt auf unsere Ankunft und den Beginn der Vorführung warten! Unglaublich, welch eine festliche, gelöste und erwartungsfrohe Stimmung in dem Saal herrschte!

Der Pressekonferenz ging eine umfangreiche PR-Arbeit voraus. Versand einer Pressemitteilung an zahlreiche Medienvertreter mit dem Ziel, die Opfergruppe und ihre Videodokumentation überhaupt bekannt zu machen – verknüpft mit dem Ereignis der "Weltpremiere" (Uraufführung) an der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück und dem Hinweis, dass dort Historiker und Zeitzeugen zu Wort kommen werden. (So was hielt man bei den Zeugen Jehovas offenbar nicht für möglich! Das Interesse innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft war jedenfalls groß!)

Zusätzlich versandte ich zahlreiche persönliche Einladungen (inzwischen war ich auf Grund der Menge der Korrespondenz unterschriftsberechtigt für Briefe) zur Premiere in Ravensbrück an Historiker, Gedenkstättenleiter, Forschungseinrichtungen und Personen des öffentlichen Lebens, einschließlich des deutschen Bundespräsidenten in Berlin (natürlich in Absprache mit Vorstandsmitglied Werner Rudtke).

Der Bundespräsident antwortete auf die Einladung mit anerkennenden Worten für den Stand der Religionsgemeinschaft während der NS-Diktatur und unser Vorhaben an der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.

Am nächsten Tag, 7. November 1996, Vorführung in der TU Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung (Professor Wolfgang Benz), zusammen mit Dr. Johannes Heil. Zur Einführung halte ich eine Stehgreifrede nach Kurznotizen – zu einem Manuskript hatte es zeitlich weder vor noch nach Ravensbrück gereicht! Ich sehe noch den erstaunen Blick von Dr. Johannes Heil auf meinen kleinen Spickzettel! (Ich glaube es war ein Serviette aus dem Cafe, wo ich kurz zuvor eine Kaffeepause eingelegt hatte.) Die Nacht zuvor hatte ich genutzt, um weitere Pressemitteilungen an viele Adressen der Berliner Pressekonferenz (Medienadressen) zu faxen. Zumindest sollte unser Vorhaben unter den Medienvertretern bekannt werden!

Presse und Rundfunk, nicht nur in Berlin, auch in den folgenden Jahren, nehmen die öffentliche Videofilmvorführung und die Darstellung der "vergessenen Opfer" mit dem lila KZ-Häftlingswinkel in Ausstellungen insgesamt sachlich und positiv wahr!

Wie geht es weiter?

Weiterentwicklung eines Konzepts für die Öffentlichkeitsarbeit zur vermehrten Gedenkarbeit, das heißt Thematisierung und Wahrnehmung der Opfergruppe in Ausstellungen, Medien und bei Gedenktagen mit dem Ziel der bleibenden "Erinnerung" (Gedenken). Fachveröffentlichungen zu Nachschlagezwecken sollen das bleibende Gedenken sichern. (Darauf geht "Teil II" näher ein.)

Arbeit als Autor, Lektor, Referent, Archivar (archivist) und (nichtakademischer) Historiker (researcher & historian), zuständig für Konzeption, Fotos/Texte und die Realisierung von Ausstellungen zur Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas (Bibelforscher, auch: Ernste Bibelforscher) unter dem Nationalsozialismus und Sozialismus (DDR).

Nach der erfolgreichen PR-Arbeit im November 1996 und dem Vorbild der Uraufführungen in Ravensbrück und Berlin sollten in Deutschland einige öffentliche Veranstaltungen dieser Art folgen, und ich hatte dabei an vielleicht vier, fünf oder einige mehr gedacht! Doch es sollte anders kommen, gigantischer als geplant, was nicht unbedingt für meine Arbeit im Geschichtsarchiv langfristig von Vorteil sein sollte.

RÜCKBLiCKE, 1997 – 2007

Die ersten öffentlichen Videofilm-Vorführungen nach der Premiere beginnen in der Stadthalle Idstein (25. Januar 1997) und im Kurhaus Wiesbaden (27. Januar 1997), wobei ich jeweils eine relativ kurze Einführungsrede halte, die künftig als Muster für solche Veranstaltungen dienen konnte.

Massenhaft "Standhaft"-Events

Doch es folgen nach dem Januar 1997 und im Laufe der Jahre Hunderte, sogar über Tausend ähnliche öffentliche Vorführungen der Videodokumentation in ganz Deutschland (und eine Anzahl im Ausland)! Dabei kommen die Ausstellungstafeln über Einzelschicksale (aus dem "Geschichtsarchiv", teilweise auch vor Ort aufbereitet) zum Einsatz, es werden nach Möglichkeit Zeitzeugengespräche auf der Bühne geführt oder man lässt Historiker zu Wort kommen, ähnlich wie bei der Welturaufführung an der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück am 6. November 1996.

Organisiert und betreut werden die öffentlichen "Standhaft"-Ausstellungen (zwei große fertige Tafelsätze sind vorhanden, ein kleinerer Tafelsatz kam noch hinzu) und Videovorführungen nunmehr von einer neuen Wachtturm-Abteilung in Selters/Taunus, die bereits Anfang 1996 vom Hauptbüro für Deutschland ins Leben gerufen worden war, die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit unter Leitung von Wolfram Slupina und unter Aufsicht und teilweiser Mitarbeit von Walter Köbe.

Die neue Abteilung wird zunächst "Informationsdienst", später "Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit", danach "Informationsbüro" genannt – ein Indiz dafür, dass man sich intern erst mit der neuen Rolle der PR-Arbeit und ihrer eigentlichen Aufgabe erst noch zurechtfinden musste, sowohl im Zweigbüro als auch im Hauptbüro. Das Informationsbüro in Selters/Taunus wurde von vielen engagierten Helfern im ganzen Land unterstützt, die diese Event-Veranstaltungen zu einem großen Erfolg gemacht haben! Die Einführungsreden bei den öffentlichen Veranstaltungen werden nun meist von Vertretern des Informationsbüros aus Selters/Taunus oder manchmal von örtlichen Vertretern gehalten.

Mit diesen kleineren Veranstaltungen hatte ich praktisch nichts mehr zu tun. Das Informationsbüro organisierte, natürlich mit Genehmigung der Leitung im deutschen Zweigbüro der Watchtower Society (zuständig Vorstand Werner Rudtke), alle "Standhaft"-Veranstaltungen, die bald weit über das hinaus gehen, was ich ursprünglich für möglich gehalten hatte, und wie oben erwähnt, langfristig nicht unbedingt zum Vorteil unserer Arbeit im Geschichtsarchiv gereichte, weil diese neue, ungewohnte Art der proaktiven Öffentlichkeitsarbeit bisherige Arbeitsprinzipien und Sichtweisen der Gemeinschaft durchaus "sprengte", wofür zwar grünes Licht vom Hauptbüro in Brooklyn N.Y. gegeben worden war, doch nicht jedes Mitglied der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas davon überzeugt war, das das war, was sie eigentlich wollte.

Unter dem Titel "Erinnern für die Zukunft – die NS-Opfergruppe der Zeugen Jehovas in Nordrhein-Westfalen", können die Ausstellungstafeln im Landtag Düsseldorf gezeigt werden. Die Ausstellung wird durch den Landtagspräsidenten am 22. Januar 2003 eröffnet. Die Veranstaltung im NRW-Landtag veranschaulicht, welche Fortschritte die öffentliche Wahrnehmung der NS-Opfergruppe der Zeugen Jehovas (Bibelforscher) gemacht hatte!

Zweifellos liegt der Nutzen und Verdienst dieser Öffentlichkeitsarbeit unter anderem darin, dass sie dem Gedenken an die Opfer dienen, wobei sich gleichzeitig Betrachter fragen können, wie es zu einer solchen Standhaftigkeit aus Gewissengründen von überwiegend einfachen Menschen in einem Kampf auf Leben und Tod unter einem totalitären Regime kommen kann.

Veranstaltungen im Ausland

Premieren des "Standhaft"-Videofilms finden auch außerhalb Deutschlands statt, so in Österreich in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen am 18. Juni 1997, wobei ich u.a. den oben erwähnten Leopold Engleitner interviewe. (Sein Lebensbericht [engl.] erschien 2005 im Wachtturm. Er verstarb im Alter von 107 Jahren am 21. April 2013 in Österreich.)

Da die Videodokumentation in vielen weiteren Sprachen synchronisiert wird, können in weiteren Ländern (und auf anderen Kontinenten) öffentliche Vorführungen bzw. Premieren des Videofilms und "Standhaft"-Ausstellungen nach dem Muster in Deutschland organisiert werden. Die deutschen Texte der Ausstellungstafeln, der Pressemitteilungen usw. werden jeweils in die entsprechenden Sprachen übersetzt.

Video-Vorführungen (kombiniert mit Ausstellungen) finden zum Beispiel in Schweden (14. bis 16. Januar 1998 in Stockholm und Strengnäs), in England (20. Januar 1998 in London) oder Russland (am 29. Juni 2000 in Moskau, wobei Historiker aus Deutschland mitreisen, die Zeitzeugen dagegen aus der Ukraine und Russland stammen) statt. In Polen sind es die KZ-Gedenkstätten und das Museum Auschwitz-Birkenau (21. September 2004) und Stutthof (26. April 2006).

Die Ereignisse erforderten viele Reisen, was ganz in meinem Sinne war und mich begeisterte! (Reisen ohne eigenes Budget; die Wachtturm-Gesellschaft bezahlte Tickets und ggf. Hotelrechnungen, sofern nicht ein Watchtower-Zweigbüro, zum Beispiel in Österreich, England, Schweden oder Russland, für Unterkunft und Verpflegung im "Bethel" sowie weitere Transportmittel sorgte.) Es kam vor, dass ich manchmal kurz hintereinander Termine an verschiedenen Orten wahrnahm, eine Besonderheit, was natürlich nicht die Regel war:

13.–17. Januar 1998 (Stockholm und Strengnäs)
18.–23. Januar 1998 (London und Newark)
27. Januar 1998 (KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen bei Berlin)
28.–30. Januar 1998 (Wien)
2. Februar 1998 (Salzburg).

29. Juni 2000 (Moskau)
30. Juni 2000 (Gedenkstätte Ahlem/Hannover)
01. Juli 2000 (EXPO Hannover, privat und auf Einladung von Ehepaar Dirksen).

Wachsende Aufmerksamkeit

Die Religionsgemeinschaft in Deutschland hatte wie ich meine ein berechtigtes Interesse daran, als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt zu werden (vor allem nachdem das Vereinsrecht keinen ausreichenden Schutz mehr für religiöse Gemeinschaften bot, was nach den Anschlägen des 11. September 2001 der Fall wurde), doch bestand sicherlich gleichzeitig zu dieser Zeit (ab 1996) ein aufrichtiges Interesse daran, ihre NS-Verfolgungsgeschichte durch Einzelschicksale aufzuarbeiten bevor die letzten Zeitzeugen starben.

Und die Thematik der "other victims" fand, wie bereits erwähnt, neben den jüdischen NS-Opfern jetzt allgemein und besonders in den USA wachsende Aufmerksamkeit durch Museen, Gedenkstätten und Holocaust-Gedenktage (27. Januar; in Deutschland seit 1996, international seit 2005).

Das "Geschichtsarchiv" in Selters/Taunus war mit der Zeit in der Lage, den Bedarf zu befriedigen, das heißt die Anfragen von Studenten und Historikern zu bearbeiten und konkretes Material (Daten, Fotos, Texte) über Verfolgte zu liefern, nicht nur für eigene "Standhaft"-Ausstellungen, sondern auch für Ausstellungen von Gedenkstätten und Museen im In- und Ausland.

Bleibendes Gedenken

(Dieser Teil und die folgenden gleichen mehr einer knappen, unvollständigen Aufzählung der Veröffentlichungen und Events der Jahre 1996 bis 2008 und werden durch "Teil II, Zeitgeschichte oder Ein Idealist beobachtet die Welt" vervollständigt. Vgl. auch die Auflistung in der Bibliografie.)

Zahlreiche namentlich gekennzeichnete Fachveröffentlichungen und Referate, zum Beispiel 2006, Jehovah's Witnesses in National Socialist concentration camps, 1933 – 1945, wobei die Grundlagen für diese Facharbeit durch die Forschungen für ein Referat gelegt wurden, das ich bereits in der Gedenkstätte und im Museum Auschwitz-Birkenau am 21. September 2004 halten durfte.

In der Regel schrieb ich für jede "Standhaft"-Veranstaltung in Deutschland, wo ich als Besucher referierte, ein neues Redemanuskript und das mit einem örtlichem Geschichtsbezug sowie mit Kurzbiografien zu den am Ort Verfolgten. Einige Geschichtsreferate sind mit Bezug auf die einstige Rolle des Veranstaltungsortes konzipiert, zum Beispiel in KZ-Gedenkstätten oder ehemaligen Zuchthäusern, einschließlich der damaligen DDR.

Dazu gehört zum Beispiel das Referat im Aufseßsaal des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg am 12. November 1998, das den Titel trägt, "'Die den Frieden wollten'" – Die Rolle von Jehovas Zeugen [Bibelforscher] bei den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozessen." (In diesem Fall hatte mir ein recherchierender Zeuge Jehovas vor Ort dankenswerter Weise zugearbeitet.) Das Rahmenthema des externen Veranstalters war, "Von den 'Nürnberger Gesetzen' zu den 'Nürn­berger Prozessen'." (Oder mit Bezug auf den Forschungsstand für Berlin im Rahmen der unten erwähnten zwei­wöchigen Veranstaltung im Rathaus Schöneberg im Frühjahr 1999.)

Während der gesamten Zeit seit 1996 erfolgten außerdem Besuche von Fachseminaren (Symposien) und Fachtagungen im In- und Ausland, um einerseits für die Opfergruppe präsent zu sein (ggf. zu referieren), andererseits um sich fortzubilden, zum Beispiel in Moskau* (1997), Jerusalem (1999), Stafford/England und Berlin-Normannenstraße (2004).

Moskau, 1997 * Foto: Vor der "Russian State Humanitarian University" in Moskau am 5. Mai 1997 mit meiner US-Kollegin Jolene Chu, wo das internationale Symposium "Lessons of the Holocaust and Modern Russia" von der "Holocaust Foundation Russia" stattfand und wir jeweils Referate hielten, die später veröffentlicht wurden (engl.).

In Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Fritz-Bauer-Institut (Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust) finden durch das Informationsbüro in Selters/Taunus gemeinsame Tagungen im Kreismuseum Wewelsburg und im Bürgerhaus Frankfurt-Bornheim statt (Oktober 1997). Oder unter Leitung von Prof. Dr. Dr. Dr. h.c Gerhard Besier, damals Universität Heidelberg, die mehrtägige Tagung "Repressionen und Selbstbehauptung. Die Zeugen Jehovas [Bibelforscher] unter der NS- und der SED-Diktatur“, wo ich unter anderem ein Referat zum DDR-Strafvollzug halte (3. bis 5. November 2000). Den Referaten folgt die Veröffentlichung als Aufsätze in Sammelbänden.

Im Rathaus Schöneberg, wo einst John F. Kennedy seine berühmte Rede gehalten hatte (der Platz vor dem Haus ist heute nach ihm benannt), zeigen wir im Frühjahr 1999 unsere Ausstellung, den Videofilm und es finden Abendveranstaltungen unter dem Motto "Verständnis füreinander - Unrecht vermeiden" statt (24. März bis 6. April 1999). An fünf Tagen sprechen bei den öffentlichen Events bekannte Historiker und Zeitzeugen. Mein Referatsthema: "Das staatsfeindliche Treiben der Internationalen Bibelforscher kann nicht geduldet werden." Jehovas Zeugen in Berlin 1933 – 1945.

Unterstützung von externen Forschungs- und Ausstellungsprojekten in Gedenkstätten und Museen im In- und Ausland (wozu oft das Vorrecht gehört, bei den Ausstellungseröffnungen anwesend zu sein). Dazu gehörte zum Beispiel die "Holocaust Exhibition" im Imperial War Museum in London, die am 6. Juni 2000 von der britischen Königin Queen Elizabeth II. eröffnet wird, in Anwesenheit des Prinzgemahls, den mein Kollege und ich sprechen dürfen. (Diesen Teil werde ich bei Gelegenheit ausführlicher schildern.)

Oder im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin ist es die bemerkenswerte Ausstellung "Holocaust, der nationalsozialistische Völkermord und die Motive der Erinnerung" (2002).

Referat vor dem Beirat der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin (19. Juli 2001).

Teilnahme an den zentralen oder dezentralen Veranstaltungen anlässlich der jährlichen Gedenktage zur Befreiung der Konzentrationslager, zum Beispiel in Berlin-Sachsenhausen oder Ravensbrück.

Errichtung von Denkmälern für die Verfolgtengruppe (und ihrer feier­liche Übergabe [Foto, Referat Dachau, 2003]) in den KZ-Gedenk­stätten Sachsen­hausen (1999) und Neuen­gamme (2006) sowie die An­bringung von Gedenk­tafeln, zum Beispiel in der KZ-Gedenk­stätte Dachau (2003).

Durchsicht oder Förderung (Beiträge, Zulieferung) von zahlreichen externen Publikationsprojekten, zum Beispiel den Veröffentlichungen zu den Berliner Bezirken der Gedenkstätte Deutscher Widerstand.

(Lieber Leser, dieser Teil ist wie im Vorwort des Inhaltsverzeichnisses bemerkt, deswegen relativ knapp gehalten, weil ich mich dann entschloss, die Veröffentlichungen und Ereignisse der Jahre 1996 bis 2008 ausführlich in einem neuen, separaten autobiografischen Teil zu bearbeiten, was dann mit "Teil II" vorliegt.)

Weitere Höhepunkte

Interview anlässlich des "Public Program: Honor and Remember Jehovah's Witness Victims of The Nazi Era" zur Verfolgtengruppe im United States Holocaust Memorial Museum (USHMM), Washington D.C. am 5. Oktober 2006. Die Veranstaltung in Washington D.C. stellt einen weiteren Höhepunkt dar in der öffentlichen Wahrnehmung der NS-Opfergruppe der Zeugen Jehovas (Bibelforscher). (Den Archiven des USHMM stellen wir später umfangreiche gescannte Unterlagen zur Verfolgtengruppe auf vertraglicher Basis zur freien Verfügung unter Berücksichtung von Schutzfristen.)

Konzeption und Realisierung der Sonderausstellung "Lila Winkel in Ravensbrück" in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück (März bis August 2007). Dazu kommen Sondertafeln für andere Ausstellungen (Baden-Württemberg; NS-"Euthanasie- und Gasopfer in Bernburg; Stasi-Museum Berlin, Normannenstraße u.a.).

Die umfangreichen Aufgaben waren nur möglich unter Mitarbeit meines fleißigen Teams im "Geschichtsarchiv" in Selters/Taunus, das im Laufe der Zeit immer größer wurde, unter anderem von Christel Jeblick und Wilhelm Einschütz (ab 1996); Angela Nerlich [bis April 2001], Daniel Meier, Corinna Mauruschat und Annegret Dirksen (ab 1997) sowie Gudrun Reuter (ab 2004).

Unsere Hauptaufgabe war die Erfassung aller verfügbaren Informationen über Verfolgte (Daten, Fotos, Dokumente, Texte) in einer internen effizienten zentralen digitalen Opferdatei, über die wir uns in der Regel blitzschnell, zum Beispiel bei Anrufen von draußen, über die Quellenlage zu einzelnen Verfolgten oder den statistischen Bestand (Arbeitsplatzverlust, Kindesentzug, Haft- und Todesfälle, Hinrichtungen usw.) informieren und dementsprechend Auskünfte erteilen konnten.

In seinem Dank für die Dokumentation der Verfolgungssckicksale in NRW schloss der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen 2006 alle Mitarbeiter des "Geschichtsarchivs" ein.


RÜCKBLiCKE, 2008

Fachreferat in der Gedenkstätte Bernburg zu den "Euthanasie"- und "14f13"-Opfern der NS-Verfolgtengruppe (9. Oktober).

Realisierung und Abschluss des "Victim List Project of the Swiss Bank Settlement / Holocaust Victim Assets Programme (HVAP) assisted by the United States Holocaust Memorial Museum" zur NS-Opfergruppe, d.h. die Überantwortung von gescannten Verfolgtenunterlagen in die Archive des USHMM in Washington D.C. auf Grund einer schriftlichen Vereinbarung (am 5. Oktober 2006 war ich dort anläßlich eines öffentlichen Programs interviewt worden). Damit wird eine Lebensaufgabe erreicht – ich sollte bald neue Herausforderungen ins Auge fassen.

Der Widerstand nimmt zu

Die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas (Governing Body) in Patterson und Brooklyn N.Y. (heute Warwick, New York) unter Leitung von Theodore Jaracz (1925-2010) befürwortete inzwischen aus biblisch-religiösen Gründen nicht mehr die externe öffentliche Geschichtsaufarbeitung, vereinfacht ausgedrückt.

Das "Geschichtsarchiv" war allerdings am 9. Oktober 1996 innerhalb der Leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas durch sein Redaktionskomitee (Writing Committee) unter Leitung von Lloyd Barry (1916–1999), diesem Komitee gehörte Theodore Jaracz nicht an, anerkannt worden. Writing Committee informierte 38 Watchtower-Zweigbüros weltweit über die Existenz des Archivs.*

* Mit folgendem Wortlaut (Auszug): "We are pleased to let you know that the Writing Department in Germany has started a History Archive ["Geschichtsarchiv"] to analyze and compile this [historical] information. We believe that it will yield much valuable information that can be provided to educators, scholars, and responsible members of the news media. The Writing Department in Brooklyn will provide oversight of the development of all Nazi-era materials and will provide direction on how the material can be used. You should direct all questions and suggestions to Desk EC for consideration. You may also write to the Germany History Archive for information."

Die Aufsicht über meine Geschichtsarbeit behielt sich die Redaktionsabteilung (James N. Pellechia, Writing Department unter Aufsicht des Writing Committees, Vorsitz Lloyd Barry) in Brooklyn N.Y. vor, was zu meinem Schutz dienen sollte, so dass ich meine Arbeit zunächst ungehindert von Einflüssen Dritter fortführen konnte. Nach dem Tod von Lloyd Barry (1999), dem zuständigen Glied der Leitenden Körperschaft für den Bereich Writing und Public Affairs, verschlechterte sich allmählich unsere Position der proaktiven, öffentlichen "externen Geschichtsaufarbeitung" in Selters/Taunus, wo sie begonnen worden war, und in anderen Ländern.

Die Ablehnung von Theodore Jaracz, dem einflußreichsten Glied der Leitenden Körperschaft und zuständig für den Bereich weltweite Verwaltung und Evangelisation, einem auch von mir durchaus geschätzten und geachteten Zeugen Jehovas (siehe oben), zeichnete sich bereits seit einigen Jahren bei seinen Besuchen in Selters/Taunus und in internen Mitteilungen ab (wobei allerdings meine Arbeit und die des Informationsbüros nicht unbedingt kohärent waren, was offenbar nicht klar unterschieden wurde). Doch die Lähmung der Geschichtsarbeit konnte zunächst immer wieder in meine Arbeit erläuternden Gesprächen mit Theodore Jaracz und anderen Entschei­dungsträgern der Religions­gemeinschaft hinaus­gezögert werden.

Meine Argumente bei unserem Gespräch mit Theodore Jaracz (Besuch als "Zonenaufseher" im Zweigbüro Deutschland der Watch Tower Society) im Beisein von Richard Kelsey (Koordinator des Zweigkomitees) und Werner Rudtke (Mitglied des Zweigkomitees, mein unmittelbarer Vorgesetzter) am 20. April 2005 waren: Meine Abteilung gibt lediglich "Information" an Außenstehende, keine biblische Belehrung (wie das überwiegend vordem bei meiner Arbeit für die Redaktionsabteilung der Fall war, zum Beispiel bei den Artikeln für die englische Zeitschrift The Watchtower – etwas anders dagegen das Konzept bei dem Magazin Erwachet!, engl. Awake!, das seinerzeit mehr sachlich informierte); wir haben dabei mit der "Politik" (dieser Welt und ihren Religionen) nichts zu tun; manche Leute halten Zeugen Jehovas quasi für "verrückt" und "gefährlich", doch nach unserer Öffentlichkeitsarbeit, überspitzt formuliert, sozusagen nur noch für "verrückt"! Jaracz ging darauf ein, mahnte: "Avoid the politics!".

Die Geschichtsarbeit konnte nach diesem Gespräch mit Theodore Jaracz zunächst fortgeführt werden. Letztendlich aber war das Ziel der Leitung (seit Mai 2001), die Geschichtsarbeit praktisch auf den Umfang von ganz früher zurück zu fahren und nur noch auf Anfragen zu reagieren. Man zog meine Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen nach und nach von der Archivarbeit ab, ungeachtet der laufenden Anfragen von außen, so dass umfangreichere Recherche­ und Fotoanfragen, zum Beispiel vom U.S. Holocaust Museum in Washington D.C., bald nicht mehr bearbeitet werden konnten. (Ohnehin hatte sich auf Grund von Überlastung bereits einiges an Unerledigtes bei den Mitarbeitern angesammelt.) Selbst innerhalb der deutschen Leitung sah man die öffentliche Wahrnehmung der Verfolgten zwar weiterhin durchaus positiv, nicht jedoch das Ausmaß und die (angebliche) Nähe der "Standhaft"-Veranstaltungen zu religiösen oder politischen Einrichtungen, was allerdings vom Informationsbüro und nicht vom "Geschichtsarchiv" zu verantworten gewesen wäre.

Man bewertete zudem im Zweigbüro in Deutschland scheinbar nicht günstig, so hatte ich jedenfalls den Eindruck, dass unsere Namen durch namentliche Veröffentlichungen von Aufsätzen zur Verfolgung quasi mehr im Vordergrund standen als die ihrigen. (Bei externen Veröffentlichungen waren namentlich gekennzeichnete Manuskripte allerdings die Voraussetzung. Oft arbeitete ich dafür im Vorfeld mit gelernten Historikern oder Personen in universitären Bereichen im In- und Ausland zusammen, die kein Verständnis dafür hatten, zum Beispiel den Namen eines Vorstands­mitgliedes der Wachtturm-Gesellschaft als Verfasser meines zeitgeschichtswissen­schaftlichen Beitrages anzugeben. Namentlich durch die Verfasser gekenn­zeichnete Fach­aufsätze sind allgemein die Norm. Dieser Norm folgten auch die sonst anonym schreibenden Watchtower-Autoren im damaligen Hauptbüro in Brooklyn N.Y., wenn sie bei "weltlichen" Trägern namentlich publizierten, also nicht für die religions­internen Watchtower-Veröffent­lichungen schrieben. Das war zum Beispiel der Fall bei Mitarbeitern von "Public Affairs" (Öffentlichkeitsarbeit), mit denen ich eng zusammenarbeitete, oder bei Mitarbeitern aus dem Rechts­bereich im "Legal Office". Und diesem Muster folgte ich ebenso. Während ich für die Watchtower Society grundsätzlich anonym Artikel schrieb, sind alle namentlich veröffentlichten Manuskripte das Produkt umfangreicher Recherchen als Historiker; noch heute betätige ich mich und publiziere als Historiker und Heimatforscher, engl. local historian.)

Eine zweite Lebenszäsur

Die Welt im "Bethel" war nicht mehr die meinige. Vertraute Menschen waren inzwischen aus Altersgründen oder wegen Krankheit verstorben, wie Alice Berner, Cilli Sauer, Auguste Bender, Inge Dengler, Erika und Harald Köhler, August Peters, Wolfgang Krolop, Ilse und Günter Künz, Egon Peter, Hedwig und Edmund Anstadt, Hermann Reuter, Gertrud und Wilhelm Einschütz sowie Willi und Editha Pohl und andere mehr. Zum Schluss verstarb der relativ junge Bernd Schinkmann sowie ebenfalls viel zu früh ein Mitältester aus der Ortsgemeinde Selters/Taunus, der ich zu dieser Zeit angehörte, und den ich sehr mochte (vielleicht hätte deren Tod irgendwie verhindert werden können, aber das ist nur meine Annahme oder wäre mein Wunsch gewesen).

Einige Menschen, die Einfluss auf meine Arbeit oder mein Leben im "Bethel" nehmen konnten, waren aus meiner Sicht etwas "eng oder "kleinkariert" (was sicherlich jeder auf seine Weise sehen wird). Man muss sich immer wieder für das "Bethel" ändern, nicht umgekehrt – diese Devise war mir immer klar gewesen, aber jetzt war für mich persönlich eine neue Zeit und die Zeit für einen mutigen konsequenten Wechsel gekommen, eine zweite Lebenszäsur, und das erneut ungeachtet meines Lebensalters, meines inzwischen durchaus angeschlagenen Gesundheitszustandes und der durchaus negativen materiellen Konsequenzen für Gegenwart und Zukunft (zB der zu erwartenden Rente).

Der freiwillige Weggang aus dem "Orden der Sondervollzeitdiener der Zeugen Jehovas – Deutschland" in Selters/Taunus mit Armutsgelübde, um fortan ein eigenes, selbstbestimmtes, "anderes" Leben zu führen, bedeutete gleichzeitig den Verzicht auf einen Arbeitsplatz, den ich mochte, auf die (lebenslange) wirtschaftliche Versorgung und geistige Gemeinschaft, die ich seit 1972, als ich als junger Mensch ins "Bethel" Wiesbaden gekommen war, dort genossen hatte.

Anmerkung: Siehe auch den aktuellen Beitrag "Beendigung meiner Tätigkeit in Selters/Taunus und im 'Geschichtsarchiv' (2008)" und einen weiteren Kommentar dort unter "About" (Stand Juni 2023/gegenwärtig in Überarbeitung).

Mein Wissensdurst war gestillt, die Geschichtsaufarbeitung quasi beendet, eine "Lebensaufgabe" erreicht. Ich hatte dem Gottesdienst viel Lebenszeit geschenkt, was ich niemals bedauert habe, und selbst dabei spirituell sehr profitiert. Doch jetzt hielt mich an diesem durchaus schönen Ort oder Platz nichts mehr zurück, auch nicht Menschen, die mir dort nahe standen (worauf ich nicht weiter eingehen möchte, um ihre Privatsphäre zu wahren) und sie in der sicheren Obhut des Orden und einer in Aussicht gestellten lebenslangen Versorgung zurückließ. Ich selbst wollte meinen Lebensunterhalt nun selbst bestreiten, ohne zu wissen, was mich in der "Welt" draußen wirtschaftlich erwarten würde, gleichwohl ich mein Gottvertauen und meine Zuversicht bis heute nicht verloren habe.

Am 23. November 2008 (ich nahm noch schriftlich Urlaub bis 30. November) beendete ich meine langjährige Tätigkeit im "Bethel" freiwillig und formal (schriftlich), mein Dienstverhältnis mit der Wachtturm-Gesellschaft bzw. meine Ordenstätigkeit bei "Jehovas Zeugen" in Selters/Taunus. Das geschah aus privaten, persönlichen und gesundheitlichen Gründen (in meinen "Kündigungs"-Schreiben erwähnte ich ausdrücklichh auch gesundheitliche Gründe). Damit endete nach 36 Jahren mein hauptamtlicher, unentgeltlicher Gottesdienst. (Richtig, es ging nicht ums Geldverdienen, sondern meine Tätigkeit war völlig losgelöst davon, eben gottesdienstlich und daher unentgeltlich, gleichwohl bei wirtschaftlicher Unterhaltung und geltwerten Leistungen und das mit lebenslanger Versorgung bei Verbleib im Orden.)

Damit gleichzeitig und folglich auch die Aufgabe meiner Leitung des "Geschichtsarchivs" (oder mein "Rücktritt" als Abteilungsaufseher), also der Sammlungen bei der Wachtturm-Gesellschaft zur staatlichen Verfolgung der Zeugen Jehovas (Bibelforscher) im Nationalsozialismus und im SED-Regime der DDR, eines Arbeitsplatzes mit umfassenden Aufgaben und Herausforderungen, denen ich mich seit Anfang 1996 intensiv und gern gewidmet hatte. Mit der Zeit wurde daraus ein enormes Arbeitspensum, das ich versuchte, in Gottes Kraft und mit seiner Hilfe zu meistern. (Die Teilnahme an Geschichtsveranstaltungen und monatliche Reisen als Redner der Organisation bleiben hier unerwähnt.) Dazu gehörte die Erfassung von Verfolgtendaten, Archivalien und deren Auswertung, worin mich mein immer größer werdendes "Geschichtsarchiv"-Team sehr gut unterstützte. Ich widmete mich persönlich der Beantwortung von Fachanfragen (Korrespondenz), und anfänglich kamen meine bisherigen Aufgaben als Mitglied der Redaktionsabteilung hinzu, also Artikel für Wachtturm und Erwachet! (jeweils engl., die im Hauptbüro in Brooklyn redigiert und dann weltweit für die Zeitschriften übersetzt wurden) sowie die Beantwortung von "Leserfragen" und "biblischen Fragen", während mir die Arbeiten mit der umfangreichen Hausbibliothek zu meiner Entlastung abgenommen wurden. (Darüber hinaus konzipierte ich die Uraufführung der "Standhaft"-Videodokumentation im November 1996 mit der Teilnahme von Zeitzeugen, Historikern und Behördenvertretern, was wegweisend für die folgende Öffentlichkeitsarbeit werden sollte, und verfasste zwischen 1996 und 2008 viele Referate, Redebeiträge für weitere Veranstaltungen im In- und Ausland sowie Manuskripte für Fachveröffentlichungen, die ich bis heute als erhaltenswert betrachte, um den Verfolgten weiterhin Namen und Gesicht zu geben und sie der Vergessenheit zu entreißen. "Die Erinnerung an einen Menschen ist ein Menschenrecht" – Michael Hollmann, Berlin, Präsident des Bundesarchivs.*)

* Ich nahm mir daher vor, die zahlreichen zeitgeschichtlichen Redebeiträge, Referate und Manuskripte (1996–2008), deren Urheber und Verfasser ich als Geschichtsforschender bin, eines Tages der interessierten Öffentlichkeit, Fachhistorikern und Studierenden unter dem Label "jwhistory", wobei sich "jw" auf meinen Vor- und Zunamen bezieht, vor allem digital zugänglich zu machen. (Darüber sollten dann allerdings etliche Jahre vergehen; vgl. jwhistory.net. Erst jetzt als alternder und nicht gerade gesundheitlich fitter Rentner komme ich dazu, das sehr umfangreiche Vergangenheits-Projekt nach und nach zu verwirklichen [wie es heute meine Umstände erlauben, vgl. Brief des Bürgermeisters nach der Aufgabe eines Jobs vor Ort leider aus gesund­heitlichen Gründen], um mich danach wieder, so 'Gott will und ich lebe' (vgl. Jakobus 4,15), dem Hier und Jetzt widmen zu können, in der neuen Wahlheimat zum Beispiel meinen geschichtsafinen, heimat­kundlichen Ambitionen (vgl. "Ortsgeschichte").

Die fehlenden Rentenbeiträge für der Zeit meiner Ordens­zugehörigkeit im "Bethel" (die ja kein arbeitsrechtliches Dienstverhältnis war) zahlte die Religions­gemeinschaft nachträglich verein­barungsgemäß in die Deutsche Renten­versicherungskasse ein. (Damit gab ich, wie erwähnt, auch die zugesicherte lebenslange wirtschaftliche Versorgung im "Bethel" auf, die nur solchen Angehörigen zusteht, die ihre Ordenszu­gehörigkeit nicht wie ich freiwillig aufgeben. Soweit mein Wissensstand bis zum Weggang aus dem Orden im November 2008.)

Das war meine zweite persönliche Lebenszäsur, ähnlich wie 1970/1972, nur in umgekehrter Richtung, die ich wie oben erwähnt in aller Form und schriftlich vollzog (ich bin sozusagen kein "weggelaufener Klosterschüler" – den Begriff verwendet Professor Besier in einem seiner Werke, allerdings in einem anderen Kontext). Ich treffe damit eine für mich richtige und akzeptable Entscheidung, zu der ich stehe. Ich bin so frei.

Mit Dankbarkeit und Befriedigung schaue ich auf die interessante Lebens-, Lern- und Arbeitszeit in Wiesbaden und Selters/Taunus zurück (1972–2008, vgl. Bestäti­gungsschreiben der Organisation, 8.12.2008):

– auf die vielen kennengelernten Menschen und Orte im In- und Ausland,
– auf die spannende Arbeit als Bibliothekar, Sachbearbeiter, Artikelschreiber, Journalist und Autor (referent, writer & researcher),
– auf die Geschichts- und Gedenkarbeit (Holocaust Research & Remembrance) als Archivar, Geschichtsforscher, Historiograph, Sachautor und Referent (archivist & historian, speaker, consultant) im In- und Ausland,
– auf die zahlreichen namentlichen Veröffentlichungen in Deutsch und Englisch (publications & articles)
– sowie im Rahmen der Geschichts- und Gedenkarbeit die vielen dienstlichen Reisen im In- und Ausland in Verbindung mit Referaten und Ausstellungen (1996–2008).

Und ich danke der Gemeinschaft für die Finanzierung und zwölfjährige Untertützung der zahlreichen Gedenk-, Geschichts- und Ausstellungsprojekte (nicht zuletzt für die Produktion und weltweite Verbreitung der Stand Firm-Videodokumentation "Standhaft trotz Verfolgung") in vielen Sprachen zur Erhaltung des Andenkens an die religiösen Verfolgungsopfer und ihre Verfolgungsgeschichte überhaupt – den bemerkenswerten, gewaltlosen Widerstand aus christlicher Gewissensüberzeugung durch die Bibelforscher oder Zeugen Jehovas unter der braunen und der roten Diktatur in Deutschland (und Nachbarländer)!


RÜCKBLiCKE, 23. November 2008 – 2016/2018

An diesem 23. November 2008, einem sonnigen Sonntagvormittag, lade ich meine bereits vorher verpackten Bücher und andere Privatsachen ohne fremde Hilfe (und fast unbemerkt) in einen gemieteten Transporter, lasse mich von niemandem aufhalten, fahre dann davon in Richtung Baden-Württemberg in ein neues Lebensabenteuer! Hatte morgens entsprechende Schreiben in die Hauspost geworfen und mich im Haus, dem "Bethel", bei verschiedenen Abteilungen und bei der Ortsgemeinde ("Versammlung") sowie bei Menschen, die es betraf, quasi "abgemeldet".

'Ging (wieder) allein, wohlgemut, in die (neue) weite Welt hinein.' Aber Hänschen war schon lange nicht mehr klein, und die Mutter leider tot.*

* Ich war 15 Jahre zuvor, nach Ankunft aus Amerika in Frankfurt am Main, gleich nach Berlin zum Krankenbett der Mutter in der Klinik geeilt. Sie hatte schon "gewartet", sprach jetzt einen letzten Satz zu mir. Ich vereinbarte noch mit einem Professor die stationäre Verlegung, aber sie trübte zusehends ein. Sie sprach zwar nicht mehr, aber hörte sicherlich noch; ich hielt ihre Hand als sie den letzten Atemzug aushauchte an diesem 8. Juni 1993. Ich glaube, ihre Liebe, die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern, bleibt ein Leben lang ungebrochen; wir scheitern vielleicht nur an einer der Ursachen für viele Probleme in dieser Welt und zwischen Mitmenschen – an guter Kommunikation.

In meinem leergeräumten Büro in Selters/Taunus ließ ich zwei Privatsachen zurück:

Das Buch Das war's, die Autobiografie von Heinz Rühmann, einst der Lieblingsschauspieler meiner Mutter, eigentlich der ganzen Familie Wrobel, natürlich neben Peter Alexander, und das Video mit dem Film Das Leben ist schön (das zum Teil auf Erfahrungen im KZ Bergen-Belsen basiert). (Buch und Video wurden mir später unaufgefordert mit anderen Privatsachen in den Kongress-Saal der Zeugen Jehovas in Reutlingen nachgesandt, wo ich sie abholen konnte.)

Anmerkung: Siehe auch den aktuellen Beitrag "Beendigung meiner Tätigkeit in Selters/Taunus und im 'Geschichtsarchiv' (2008)" und einen weiteren Kommentar dort unter "About" (Stand Juni 2023/in Arbeit).

Neuer Lebensabschnitt

Ein neuer Lebensabschnitt (meinem Biorythmus angepasst), neue Herausforderungen. Neue Heimat, neue Freunde gesucht ... und gefunden (nach manchem Missverständnis). Gute Freunde sind wie Häfen (ich liebe ja das Meer), den Heimathafen habe ich (noch) nicht gefunden.

Rückzug in ein neues Privatleben, ausgefüllt mit dem Lebenserwerb, der momentan* keine Zeit und Muße für Geschichts­forschungen und historische Doku­mentationen lässt [* was sich auf die Zeit der Erstfassung dieses Berichtes bezieht; inzwischen widme ich mich, wie es meine Umstände erlauben, regionalen geschichts­wissenschaft­lichen Forschungen, so unter dem Label "jwhistory.de:today" (in Arbeit/Vorbereitung)]. Daher nehme ich zum Beispiel die Einladungen zu Ausstellungen und Geschichts­events von Städten, Museen und Gedenk­stätten (noch) nicht wahr. (Übrigens, in Archiven im In- und Ausland schlummern noch viele unent­deckte Dokumente und Informationen zur NS-Opfergruppe mit dem lila KZ-Häftlings­winkel und anderen Verfolgung­skategorien außerhalb der national­sozialistischen Konzen­trationslager. Da gäbe es also noch einiges zu tun, um sie für die Forschung und eine interes­sierte Öffentlichkeit zu erfassen).

Unter Schwaben und Bayern

Neue Wohnorte:

Zunächst werde ich Bürger von Erpfingen in der Gemeinde Sonnenbühl, Baden-Württemberg (ab 25. November 2008, das Datum meines neuen Personalausweises – mein bisheriger war abgelaufen), auf der schönen Schwäbischen Alb (775 m). Mit freiem Eintritt zum dortigen "Ostereimuseum" und zur "Bärenhöhle", zwei touristische Sehenswürdigkeiten auf der Alb.

Glücklich unter sparsamen Schwaben, zwischen den Flüssen Neckar und Donau.

Zu den interessanten Städten an den beiden Flüssen, wie Reutlingen, Tübingen oder Sigmaringen und anderen Orten in der Nähe, wie Trochtelfingen mit dem einladenden Kundenzentrum mit Restaurant von "Alb-Gold Teigwaren", einem der größten deutschen Nudelhersteller, vielleicht ein andermal mehr. (So schrieb ich ursprünglich hier ... was längst in Vergessenheit geraten ist angesichts der Fülle an Sehenswertem, was mich dann am nächsten Wohnort und Umgebung erwarten sollte, meinem Lebensraum seit April 2011, der EuRegio Freilassing/Salzburg – Berchtesgadener Land, BGL.)

Seit 2011 lebe ich somit in Südost-Oberbayern in der sehr angenehm beschaulichen Einkaufs-, Wohn- und Grenzstadt Freilassing am Alpenrand mit Bergblick, mit Eisenbahnmuseum (Lokwelt) und Rupertuskirche (1924/1935), dem höchsten Kirchturm (74 m) im Landkreis "Berchtesgadener Land" (nur knapp so so hoch wie der Dom in Salzburg auf österreichischer Seite) – kein Wunder, dass der Hauptturm das Stadtbild Freilassings dominiert. (Und ich ihn daher oft beim Fotografieren meiner Foto "Augen-Blicke" einbeziehe als Bezugsmotiv zur Stadt Freilassing).

Lebe also in unmittelbarer Nachbarschaft zu Salzburg, an der Stadtgrenze, und die deutsch-österreichische Landesgrenze verläuft in der Mitte unseres Grenzflusses Saalach mit seiner Zweiländerbrücke. Der bekannte Kurort Bad Reichenhall ist nicht weit entfernt.

Freilassing ist anders wie der quirrlige Nachbar Salzburg, dieses UNESCO-Weltkulturerbe (Altstadt), das Tausende Touristen aus aller Welt natürlich so gern wie ich besichtigen und dort im Mirabellgarten (Altstadt rechts der Salzach) und an der Salzach spazieren gehen oder über die "Liebes(schloss)brücke" (Markartsteg), dann von der Gereidegasse zum Dom schlendern (Altstadt links der Salzach). (Natürlich gibt es mehr Besonderes, zB die "Salzburger Festspiele" oder das "Museum der Moderne", aber darüber vielleicht ein andermal mehr, dazu Fotos und Kurztexte [so mein ursprüngliches Vorhaben].)

Freilassing ist anders wie die mondäne Stadt Bad Reichenhall mit ihrem königlichen Kurgarten und Gradierwerk (1910) als Freiluft-Inhalatorium, der "Alten Saline" (1851) und Predigtstuhlbahn (1928) mit Berghotel sowie nicht zu vergessen – ihre Philmar­moniker. In Bad Reichenhall haben schon meine Eltern Urlaub und Kur gemacht, wie Zigtausende andere vor ihnen, und ich habe sie damals hier besucht, und ich besuche die Stadt noch immer gern und häufig. (Am 26. August 2016, zwischen 20 und 22 Uhr, als sich die philharmonische Radio-"Klangwolke" (Radio "Bayernwelle Südost") im verkaufsoffenen Stadtzentrum ausbreitete, ein toller Event an einem hoch­sommerlichen Abend, traf ich dort Freunde.)

Freilassing ist anders, weil ich hier zu Hause bin, meine vierte Heimat. Und wo man zu Hause ist, da ist es schön, da fühlt man sich wohl. Zufrieden unter selbstbewussten Bayern und Österreichern am deutsch-österreichischen Grenzfluss Saalach! ☺

Und mit Bergpanoramablick! Im malerischen Rupertiwinkel – dem Högl und dahinter den schönen Gebirgsstock Staufen täglich vor Augen (Hochstaufen und Zwiesel, beide rund 1.800 m), den ich schon als Kind in "Paradies"- oder "Neue Welt"-Bildern in den Wachtturm-Publikationen (mit perfekten Menschen) glaube bewundert zu haben.

In Sichtweite auch das geheimnisvolle, beeindruckende Untersbergmassiv, mit Hunderten von Höhlen, darunter die tiefste und längste Deutschlands. (Traurigerweise kommt es dort immer wieder zu tödlichen Unfällen. Im Juni 2014 musste einer der erfahrensten Höhlenforscher Deutschlands, Johann Westhauser, in einer dramatischen Rettungsaktion geborgen werden.)

Daneben liegt ein weiterer interessanter Berg, der Rotofen (Lattengebirge), der einer liegenden Frau ähnelt, die "Schlafende Hexe" (bzw. "Jungfrau" bei galanten Österreichern) – Kopf, Kinn und markante Nase sowie die Brust ("Hexenbusen") einer liegenden Frau sind gut zu erkennen – für mich ein alltäglicher Anblick, und doch immer wieder ein amüsantes Motiv aus unterschiedlichen Blickrichtungen, sei es von Bad Reichenhall, Bischofswiesen, Himmelreich (Salzburg, wo ich ab und zu beim Gruppenkegeln gewesen bin) oder von Freilassing, meiner Wahlheimatstadt.

Der Chiemsee (der drittgrößte See Deutschlands) liegt nicht weit von mir entfernt, das wunderbare "Bayerische Meer" mit zwei interessanten Inseln (eigentlich drei) und etlichen Stränden. Fraueninsel und Herreninsel sind attraktive Ausflugsziele, auch für mich. Der Chiemsee gehört zu meinen beliebten Fotomotiven hier, vor allem von Seebruck aus, wo ich auf den Heimfahrten von der Arbeit am Abend manchmal vorbeikomme [solange ich bis 2017/2018 im Aussendienst berufstätig war], aussteige und erstmal auf dem langen Bootssteg auf's Meer "hinauslaufe". Bei guter Sicht mit schönem Alpenpanoramablick!

Viel unterwegs im neuen "Brotberuf"

Ich wurde erwerbstätig, was zunächst einfacher als erwartet schien. (Ich komme ja quasi aus einer anderen sozialen "Welt" und musste außerdem neu lernen, mich in der Berufswelt zurecht zu finden.)

Als "Brotberuf" Tätigkeit zunächst als Kleingewerbetreibender (seit 2009), heute als Selbständiger und Teammanager (Independent Distributor) [Stand bis 2017/2018]. Lege außer in den Landkreisen Berchtesgadener Land und Traunstein noch weitere Entfernungen geschäftlich zurück, teilweise bis in die Landkreise Rosenheim, Altötting und Mühldorf am Inn.*

* Wobei ich in dieser Ecke Deutschlands auf meinen Fahrten mancherorts mittels Infotafeln an einen weltbekannten Bayern und Katholiken erinnert werde – an Papst Benedikt XVI oder Joseph Ratzinger. Schilder mit Hinweisen auf den deutschen Papst finden sich mehrfach in meiner Gegend, selbst an der Autobahn A8 bei Traunstein (seine Vaterstadt) [was gelegentlich überprüft werden müßte, ob das heute noch der Fall ist]. Und natürlich in Marktl (Geburtsort), Tittmoning, Aschau am Inn oder Traunstein selbst (Wohnorte), Orte in die ich ab und zu komme. Nicht zu vergessen seine Wohn-, Studien- oder Arbeitsorte Freising (wo ich oft auf Tagungen bin) oder München. Übrigens, eine nach Australien ausgewanderte Cousine des Papstes ist Zeugin Jehovas, aber damit soll es der Bezugnahmen dieser Art jetzt genug sein. ☺
Gegenwärtig, im Januar 2022, fällt durch das "Münchner Missbrauchsgutachten", von der römisch-katholische Kirche selbst in Auftrag gegeben, ein Schatten auf Papst Benedikt, wobei nicht abzusehen ist, welche Folgen die ausgelösten Erschütterungen für ihn und seine Kirche noch haben könnten.

Meine gewerbliche Tätigkeit führte mich schon zu entfernteren Orten:

Zum Beispiel eine Woche nach Hamburg. (Klar, vor der Heimfahrt den Hamburger Fischmarkt in aller Frühe besucht, doch die Hafenrundfahrt möchte ich bei Gelegenheit nachholen.) Die Adresse des Hotels unserer Gruppe war komischerweise "Reeperbahn 1", aber außerhalb des berühmten Rotlichtviertels und nicht weit von dem Platz der TV-Live-Übertragungen, wo Barbara Schöneberger auch 2016 die '"Grand Prix Party" moderiert hat. Aus meiner "Nachbarschaft" (ein Ort in der Nähe) kommt Alex Diehl, der bei der Vorauswahl zum Eurovision Song Contest einen bemerkenswerten zweiten Platz belegte.*

* Zuvor, am 2. Dezember 2015, hatte Alex Diehl mit anderen Künstlern und Musikern sowie mit Hannes Ringlstetter als Moderator auf dem Rathausplatz in Freilassing das Benefiz-Open-Air-Konzert "Mia san ned nur mia!" für alle Flüchtlingshelfer und Flüchtlinge (Stand in Europa) gegeben, wobei ich Alex Diehl für seinen super Song "Nur ein Lied" kräftig die Hand drückte. (An anderer Stelle sind Fotos und Texte von diesem Event geplant.)

Oder drei Monate lang fuhr ich jeden Montagmorgen von meinem damaligen Wohnsitz Sonnenbühl nach Nürnberg, wo ich dann in der Akquise (Neukundengewinnung für die Fa. eismann) arbeitete und in dem Dorf Kalchreuth logierte (werktags). Spaziergänge durch die Kirschgärten von Kalchreuth, vor allem wenn sie in prachtvoller Blüte standen, gehörten bald zum Abendausklang. An einem Punkt des Weges sieht man in der Ferne etwas besonderes, gemeint ist nicht die Landschaft an sich dort, das Tal von Kalchreuth (und das Dorf), sondern dass der Blick darauf vor über 500 Jahren in zwei Aquarellen von Albrecht Dürer (1471–1528) um 1500 festgehalten wurde – "das früheste Beispiel von Aquarellmalerei, die erst im 18. Jahrhundert in England zur Blüte kam", heißt es. Eine Tafel vor Ort, am Wegesrand, weist auf das "erste Aquarell" hin.

Nicht weit von Kalchreuth sind Originalwerke von Albrecht Dürer zu bewundern, nämlich im "Germanischen Nationalmuseum" in Nürnberg. Klar – nach getaner Arbeit war ich schon mal im Museum zu finden. (Nein, weder Albrecht Dürer noch ein Verwandter waren Zeugen Jehovas, aber immerhin hat der Meister, wie es damals in der Kunst sehr oft üblich war, den hebräisch-biblischen Gottesnamen JHWH, also Jehova[h], in seinen Werken verwendet wie zahlreiche andere berühmte Künstler vor und nach ihm; aber das interessiert heute nur noch wenige.)

Im "Germanischen Nationalmuseum" gibt es noch mehr Einzigartiges zu entdecken – zum Beispiel den ältesten Erdglobus der Welt, Martin Behaims Erdapfel (1492 f.). Darauf fehlt (noch) Amerika, den Kontinent "entdeckte" Christoph Kolumbus damals gerade (d.h. die Ureinwohner der "Neuen Welt" entdeckten ihn), also ein für heutige Weltreisende wenig brauchbares Kartenwerk. ☺

So lernte ich Hamburger und Nürnberger näher kennen. Es gibt überall solche und solche Menschen ... ☺

Gegenwart

Noch immer "Berliner!"

Führe noch immer ein relativ zufriedenes, glückliches, ausgefülltes (und zurückgezogenes) Leben. Vielleicht kennst du den Spruch (abgewandelt): "Ein stiller Mann [d.h. ein Mann, der schweigt], ist ein entspannter Mann ...". Jetzt habe ich mal viel aus dem Nähkästchen geplaudert, aber das bleibt ja unter uns ... ☺

Hobby oder Liebhaberei (unter dem Pseudo­künstlernamen/Pseudonym "Google Local Guide"): Augenblicks- und Alltags­fotografie als Ausdruck individueller Kunst, meine Foto "Augen-Blicke" daheim und anderswo unterwegs gesehen und fotografiert (mit dem Smartphone), die Motive oft mit Humor, Komik oder Tiefsinn gewürzt (und auf Facebook gepostet), wobei alles im Auge des Betrachters liegen soll und bleibt. Ich finde es wundervoll, mich auf diese Weise ausdrücken zu können. (Ursprünglich schrieb ich hier: "Später vielleicht einmal mehr an dieser Stelle über 'meine Knipserei' [eine Untertreibung, die ironisch gemeint war, weil ich sehr viel und schnell auf meine Weise und Art daheim und anderswo unterwegs Momente festhalte und fotografiere, ich "knipse" also in Wirklichkeit nicht in der eigentlichen Wortbedeutung]." Inzwischen ist eine Fotoalben-Homepage mit etlichen Webseiten entstanden, und hier geht es zur Einführung ... Siehe auch die Bemerkung im nächsten Abschnitt.)

Bin also noch immer viel und gern unterwegs, auch in der Natur und in Altstädten, zum Beispiel in Salzburg oder der Stadt Laufen an der Salzach ... und bin "Berliner" (frei), dazu Freilassinger (freigelassen). (Siehe zum Beispiel Moment­aufnahmen auf www.jswrobel.net, eine Auswahl von frühen "Foto Augen-BLiCKEN".)

So schrieb ich damals hier 2016. Inzwischen hatte ich die Idee, meinem "Stadt- und Naturschlendern" an Saalach, Salzach, am Chiemsee u.a.O. und "Anderswo unterwegs" auf Kurz- und Low-Budget-Kurztrips soweit es die gesund­heitlichen Zustände zugelassen haben, zum Beispiel Venedig, Triest und anderen Orten am Mittelmeer, die von hier aus, meiner oberbayerischen Wahlheimat, nicht so weit weg wie beispielsweise von Berlin oder Wiesbaden aus sind, eigene Webseiten bzw. Rubriken zu widmen und dann im "NotizBLOG" fotografisch, textlich und mit historischen Kommentaren niederschlagen zu lassen. Leider stagniert diese Arbeit auf Grund meiner persönlichen (gesund­heitlichen) Situation (Stand 2021/2022).
Inzwischen konnten die Seiten zumindest im Ansatz realisiert werden. Sie werden noch durchgesehen, überarbeitet und dann in aktualisierter Form online gestellt (Stand 2024).

Life is beautiful, und Freiheit ist bunt.

Und irgendwann geht jeder von uns auf seine letzte Reise.

Am liebsten wäre mir da eine Schiffsfahrt, Wanderung am Meer, Fluss oder an einem reizvollen See. Oder in den Heimathafen, wie gute Freunde, die man findet, egal wo.

Wie ging der alte Berliner Witz gleich nach Kriegsende in Umlauf (kann auch als altberliner Spruch zitiert werden): Jammert eine Trümmerfrau, "Ick sterbe, hab so Hunger, ick sterbe!" Die andere erwiedert: "Jammer nich, sterben müssen wir alle mal!" Sagt die erste: "Ja schon, aber ick lass mir nich jerne drängeln!" ☺

Die Farbe Schwarz bleibt in Mode. (Gilt als vornehm, nicht totzukriegen.) Blau, Gelb und bunt gefallen mir besser. ♥ (Vgl. Foto unten aus dem Freilassinger Anzeiger, 2. März 2016.)



Freilassinger Anzeiger, 2. März 2016 (Ausriss): Stephan Wrobel (Mitte, der Mann mit der Mütze ...) am 18. Februar 2016 bei einem Gruppen­kochevent in der Montes­sorischule Freilassing (Gast­geber "Freilassing isst: interkulturell, vegan", KONTAKT/Mehrgene­rationenhaus, Aus­senstelle der Stadt Freilassing).



Soweit das ursprünglich 2015/2016 entstandene Dokument, das ich inzwischen durchsehe, teilweise noch immer bearbeite und mit Fotos und Verlinkungen ergänze. Das liegt bei Teil II noch vor mir (alles braucht seine Zeit ...).




☞ Rückblicke, Teil II (Zeitgeschichte oder Ein Idealist beobachtet die Welt) [vorläufig]

☞ Zur Entstehung von Teil I und II (Einführung)




Ich schreibe, publizier(t)e Texte und poste Fotos unter meinen amtlichen und einem künstlerischen Namen:

Stephan Wrobel (mein Name in Bayern), heimatkundliche Forschungen, Fotos & Texte sowie Zeitungsartikel, Beispiel online ...

Johannes S. Wrobel/Johannes Stephan Wrobel (international), zeitgeschichtliche Texte und Fachartikel (Erinnerungskultur/Gedenkarbeit – Spurensuche, NS-Opfergruppen, vgl. Google Scholar, Deutsche National­bibliothek, ORCID Researcher ID) ...

"Stephan Castellio" (Pseudo­künstlername mit Ordnungs­funktion, Stilmittel), Facebook-Profil, Google Local Guide (Google Maps), YouTube, Foto Augen-BLiCKE, Poesie & Prosa, Literarisches ...



| Johannes Stephan Wrobel
| Johannes S. Wrobel
| Johannes Wrobel


EuRegio Freilassing/Oberbayern - Salzburg - Berchtesgadener Land (BGL) (mein Lebensraum seit 2011),
journalistisches Texten, kreatives Schreiben, Augenblicks­fotografie – Foto "Augen-Blicke"von "Stephan Castellio" (s.a. Fotoseite "jswrobel.net"), Google Local Guide, freier Autor, Heimatforscher, Historiker (siehe oben und www.lilawinkel.de).


West-Berlin; Wiesbaden & Selters/Taunus (1972–2008),
researcher, writer & historian, PR & historical publications 1996–2008
lilawinkel.de - jwhistory research & studies, 1996–2008, and today (jwhistory.de), is a private non-profit initiative
by Johannes Stephan Wrobel (jswrobel, jw).